Sascha Jouini

Gießen: Eine gestärkte Heldin

Das Stadttheater Gießen präsentiert Donizettis „Caterina Cornaro" als szenische deutsche Erstaufführung

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 02/2023 , Seite 46

Unter der neuen Intendantin Simone Sterr bleibt das Stadttheater Gießen seiner Linie treu, selten gespielten Werken Raum zu geben. Als szenische deutsche Erstaufführung war im sehr gut besuchten Großen Haus Gaetano Donizettis Oper Caterina Cornaro zu erleben. Für humorvolle Einstimmung sorgt ein derb-frecher, das Personengefüge aus heutiger Perspektive wertender Video-Vorspann über die historische Figur, die 1474 Königin von Zypern wurde und den französischen Librettisten Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges zu einem Text inspirierte, auf dem mehrere Opern basieren, darunter Donizettis größtenteils 1842 entstandene.
Der Chor (Leitung: Jan Hoffmann) gibt voller klanglicher Vehemenz die Hochzeitsgesellschaft, die sich gegen Andrea Cornaro auflehnt. Der glaubt, seine Tochter Caterina vom Bräutigam Gerardo trennen zu müssen. Im Duett schwören die beiden einander Liebe, doch macht ihnen Mocenigo, der Botschafter Venedigs, einen Strich durch die Rechnung. Mocenigo, ein gewiefter Manipulator, behauptet, es sei Wille des herrschenden Rats, dass Caterina, um Zypern politisch näher an die Republik Venedig zu rücken, Lusignano, den König der Insel heiratet.
Regisseurin Anna Drescher gestaltet die Darstellerführung prägnant, und zwar schon zu Beginn bei den lasziv-schrägen, sich in Pose werfenden Hochzeitsgästen. Eine überdimensionale Vitrine auf der Drehbühne (Ausstattung: Tatjana Ivschina) unterstreicht das Gefangensein der Heldin in Machtverhältnissen. Das prächtige Kleid, in das sie schlüpft, symbolisiert einen Verwandlungsprozess, an dessen Ende, traditionelle Rollenbilder aufbrechend, eine gestärkte Protagonistin steht. Am meisten ins Auge fällt, wie gezielt Drescher Bewegungsformen auslotet: Mal verharren die Figuren den Augenblick einfrierend, dann bewegen sie sich wie in Zeitlupe.
Während die anschauliche Inszenierung zu beeindrucken vermag, überzeugt die musikalische Ebene nicht restlos – obwohl alle Instrumentalist:innen und Sänger:innen viel Hingabe zeigen. Sopranistin Julia Araújo verleiht der Titelfigur mit feiner lyrischer Ader sensible Züge und gefällt mit ihrer geschmeidig-eleganten Stimme. Vorzüglich harmoniert sie im Duett mit Tenor Younggi Moses Do als Edelmann Gerardo. Besonderen Feinschliff demonstriert Bariton Grga Peroš in der Rolle des Königs von Zypern.
Das Philharmonische Orchester setzt klanglich trocken die Akzente und sorgt in seiner vitalen Interpretation für reichlich Schwung. Nur leuchtet die Abstimmung mit den Sänger:innen im Detail nicht immer ein: Die Instrumentalist:innen schärfen die Dissonanzen mitunter übermäßig und tragen zu dick auf. So hat der neue stellvertretende Generalmusikdirektor Vladimir Yaskorski – erstmals am Stadttheater Gießen eine Oper dirigierend – das Orchester noch nicht vollends im Griff. Streckenweise fesselt das dynamische Spiel, dann aber legt das Ensemble, die Kontraste zuspitzend, zu viel Temperament an den Tag. Um sich durchzusetzen, forcieren die Sänger:innen zudem zuweilen, und so wirkt die Aufführung etwas angestrengt.
Unterm Strich bleibt bei starken Einzelleistungen das Gesamtbild ausbaufähig. Doch überwiegen positive Eindrücke, dazu zählen kompositorisch meisterhafte, voller Leidenschaft dargebotene Chorsätze und Ensemblegesänge. Die Oper mündet nach erkämpfter Freiheit in ein unkonventionelles Finale, in dem Caterina mit kraftvoller Geste und der Parole „Schluss mit den Ängsten“ ihr Volk aufrichtet. Das sichtlich begeisterte Publikum spendet lang anhaltend Beifall und Bravorufe.