Jakob Auenmüller

Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit

Zum Umgang mit Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern nach 1990

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Transcript
erschienen in: das Orchester 03/2021 , Seite 62

Hinter Jakob Auenmüllers Dissertation steckt die Frage, inwie­fern es mehrere Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung doch noch eine soziologische und mentale Trennlinie zwischen Ost und West gibt. Der Autor wurde im Wieder­vereinigungsjahr 1990 geboren, ist in Radebeul, Dresden und Leipzig verwurzelt und hat in Hamburg promoviert. Seinem Gegenstand nähert er sich mit verschiedenen Methoden: Statistiken mit Analyse und Auswertung, Interviews mit Zeitzeugen und Vertretern relevan­ter Berufe und Literatur.
Er überträgt die Frage, zu wel­chen Anteilen aus Anpassung und Teilhabe die Konsolidierung der neuen Bundesländer vonstattenging, in die Rezeption ostdeutscher versus westdeutscher Musik seit 1989. Welchen Anteil hat die vor und nach der Wende in den neuen Bundesländern entstandene Musik in den neuen bzw. alten Bundesländern? In wel­cher Verhältnismäßigkeit stehen Aufführungen von Neuer Musik aus den neuen und alten Bundes­länder bei Festivals, in Konzerten, in der Bildung und im (Musik-)Un­terricht?
Für Auenmüller ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass er das Thema aus seinem Gefühl der Un­gleichheit, nicht aber aus persönli­cher Verletzung entwickelt habe. Es wurde eine sehr persönliche Schrift, weil der Autor seine inhaltlichen Etappenschritte genau reflektiert. Die Ergebnisse seiner Erhebungen, seine Argumentation und die Me­thodik bieten Angriffsflächen. Das liegt aber weniger an Auenmüller selbst als an den bei deutsch-deut­schen Definitionen generellen Problemen der präzisen Klassifizierbar­keit. Gehört eine vor 1989 aufgrund ihrer politischen Überzeugung aus der DDR geflüchtete oder ausge­reiste Person zur ost- oder west­deutschen Musikergruppe? In sol­chen Fällen, auch bei der Klassifizierung von Konzertformaten, gibt der Autor für die statische Zählung geringfügige Vereinfachungen zu. Auffallend ist, dass einige Genres, die in der DDR zu einem mehr oder weniger großen Anteil eine Rolle gespielt haben und nach der Wie­dervereinigung fast gänzlich aus der musikwissenschaftlichen Betrach­tung bzw. aus der Musiköffentlich­keit verschwunden sind, von Auen­müller nicht erwähnt werden.
Nach den Auswertungen und Rückfragen kommt Auenmüller zu folgenden Ergebnissen: Die Bewer­tung der Musik nach ihrer ost- bzw. westdeutschen Herkunft scheint derzeit tendenziell zu verfließen. Vor 2000 war in ganz Deutschland die Zahl der aufgeführten Werke aus beiden Teilen Deutschlands ge­stiegen, um später durch die Ten­denz zu einer internationalen Ausrichtung der Gegenwartsmusik ab­zusinken. In jüngeren Jahren entwi­ckelte sich die Tendenz, dass im Musikleben der beiden deutschen „Hemisphären“ Werke von eigenen Komponisten favorisiert wurden. Vor und nach 1989 entstandene Musik aus Ostdeutschland wird vor allem in Sonderzyklen und The­menfestivals gespielt, überregional ist sie in allen Vermittlungs- und Aufführungsformaten weniger prä­sent als Werke aus den alten Bun­desländern.
Roland Dippel