Klaus Aringer/Franz Karl Praßl/Peter Revers/Christian Utz (Hg.)
Geschichte und Gegenwart des musikalischen Hörens
Diskurse Geschichte(n) Poetiken
Hördiskurse, Hörgeschichten, Hörpoetiken, unter diese Überschriften sind insgesamt 19 Beiträge einer international aufgestellten Autorenriege einsortiert. Im 1. Kapitel Hördiskurse reflektiert Martin Kaltenecker über die Sinnhaftigkeit einer Geschichte des Musikhörens. Für Christian Grüny beinhaltet Musikhören die Verknüpfung der musiktheoretischen Disziplinen mit philosophischen und medialen Konstellationen. Christian Utz widmet sich den Präsenzphänomenen in der Musik und plädiert für die Einführung des Begriffs performatives Hören: Dieser soll das u.a. von Adorno apostrophierte adäquate Hören insbesondere für die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ablösen. Auch im Artikel von Danielle Sofer fällt die Argumentation auf, dem von Adorno, Schenker und anderen apostrophierten Modell des strukturellen Hörens ein der heutigen Situation adäquates Modell eines idealen Hörers entgegenzustellen. Einen musikpsychologischen Ansatz verfolgt Ruth Herbert und plädiert für ein multimodales Erleben von Musik unter dem Verweis auf ähnlich geartete Konzepte in der Wirtschaft, subsummiert unter dem Begriff Erlebnisökonomie.
Die Beiträge im 2. Kapitel Hörgeschichten führen in Spezialthemen aus der musikalischen Praxis, sei es die hörende Rezeption im Gregorianischen Choral (Franz Karl Praßl und Stefan Engels) oder der Versuch einer Rekonstruktion alter Musik [
] als Geschichte eines neuen musikalischen Hörens in den Aufsätzen von Klaus Aringer, Dieter Gutknecht und Nikolaus Bacht.
In der musikwissenschaftlichen Literatur sträflich vernachlässigt ist die Erforschung der Geschichte des Programmhefts: Christiane Tewinkel legt die funktionalen Veränderungen musikalischer Erläuterungstexte in Bezug auf die Hörwahrnehmung vom 19. bis ins 21. Jahrhundert plausibel dar. Hansjakob Ziemer widmet sich der historischen Anthropologie des Musikhörens der 1920er Jahre. Rainer Nonnenmann und Marion Saxer diskutieren Hörstrategien an Werken zeitgenössischer Komponisten wie Spahlinger bzw. Cage und Ablinger.
Anna Maria Busse Berger schildert in einem musikethnologischen Beitrag zum Thema Missionierung im Tansania der 1930er Jahre den Zusammenhang zwischen Renaissancemusik, vergleichender Musikwissenschaft und protestantischer Missionsarbeit.
In der Rubrik Hörpoetiken sind lediglich drei Beiträge von Komponisten aus Graz und Berlin enthalten. Peter Ablinger und Klaus Lang erweitern den Diskurs von der rein hörenden Wahrnehmung auf bildende Kunst (Cezanne, Morandi, Mondrian), Philosophie (Zurbarán) und Literatur (Musil), während Clemens Gadenstätter der Frage nach dem Verstehen im Hören als Grundlage seiner kompositorischen Arbeit nachgeht.
Insgesamt ist dieses Buch eine lesenswerte, wichtige und professionell gearbeitete Sammlung zum Thema Musikhören, dessen wissenschaftlich seriöse Erforschung viel zu lange vernachlässigt wurde.
Kay Westermann