Heinz von Loesch, Rebecca Wolf, Thomas Ertelt (Hg.)
Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert
Band 3: Aspekte – Parameter
Ein sehr nüchterner Titel für einen musikwissenschaftlichen Band von fast 800 Seiten Stärke trägt bestimmt nicht zu erhöhten Verkaufszahlen bei. Dabei hätte die dritte Veröffentlichung im Rahmen der bei Bärenreiter/Metzler herausgekommenen Geschichte der musikalischen Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert jede Werbung verdient. Die Herausgeber Heinz von Loesch, Rebecca Wolf und Thomas Ertelt haben hier unter der spröden Überschrift „Aspekte – Parameter“ so viel Spannendes zu Themen wie Akustik von Konzertsälen, Herstellung von Klavieren, Tonaufzeichnungen, Interpretationen durch Dirigenten oder Stimmungen und Intonation zusammengetragen, dass man sich in den einzelnen Kapiteln regelrecht festlesen kann.
Gleichzeitig beweisen die vielen Autorinnen und Autoren, dass Lesbarkeit und enzyklopädische Übersicht in keinem (allzu großen) Widerspruch stehen müssen. Dorothea Baumanns Beitrag zum Interpretationsaspekt „Räume“ findet eine großartige Balance zwischen Fließtext, Abbildungen und Tabellen, die einander vortrefflich unterstützen und dafür sorgen, dass man nach dem ersten Durchlesen des Kapitels sicher noch häufiger darauf zurückkommt, um einzelne Fakten nachzuschlagen.
Ähnlich informativ, spannend zu lesen, fundiert in der Darstellung und unterstützt durch zahlreiche Beispiele sind die übrigen Abschnitte angelegt. Zwei Beispiele: Thomas Seedorf beleuchtet „Stimme und Gesang“ zwar auf einem relativ kleinen Raum von kaum 30 Seiten, jedoch schafft er es, durch die Zusammenschau vieler interessanter Bausteine – so zum Beispiel der Frage, ob die Stimme als Blasinstrument anzusehen ist – Lust auf eine eingehendere Beschäftigung mit Gesang und Stimme als Trägern der musikalischen Interpretation zu machen. Und Julian Caskel und Hans-Joachim Hinrichsen gehen der spannenden Frage nach, wie sich „Retuschen“ auf die Interpretation im 19. und 20. Jahrhundert ausgewirkt haben. Anhand einer langen Reihe von Aufnahmen von Beethovens 9. Sinfonie zeigen die Autoren, wie präsent das Thema Retusche, das man möglicherweise für „überwunden“ hält, auch im heutigen Musikleben mit seinem großen Fokus auf historisch informierter Aufführungspraxis noch ist.
Es wäre noch von weiteren spannenden Stationen auf der Entdeckungsreise durch diesen hervorragend zusammengestellten Band zu berichten – von „Schauspielern, die singen können“, von Phrasierung, Tempo, Dynamik und Intonation oder auch dem vieldiskutierten Thema der Verzierungspraxis, das Jo Wilhelm Siebert genauso tiefenscharf ausleuchtet wie seine Co-Autorinnen und -Autoren ihre jeweiligen Bausteine in diesem faszinierenden Rundblick über die Interpretationsgeschichte.
Daniel Knödler