Hagen Kunze

Gesang vom Leben

Biografie der Musikmetropole Leipzig

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Henschel, Leipzig 2021
erschienen in: das Orchester 10/2021 , Seite 68

Nur einmal schmeichelt Hagen Kunze dem lokalen Leipziger Lesepublikum. Das ist an jener Stelle der Nachkriegsgeschichte, als Franz Konwitschny wegen Arbeitsüberlastung durch die Generalmusikdirektion der Deutschen Staatsoper Berlin zwar die musikalische Leitung der Semperoper Dresden 1955 abgibt, die Position des Leipziger Gewandhauskapellmeisters aber bis 1962 ausübt.
Von den großen Einrichtungen Gewandhaus, Oper, Thomanerchor und Bach-Archiv liegen umfassende Darstellungen vor. Spannend ist deshalb weniger die detaillierte Beschreibung von deren Struktur als die ihrer städtischen Netzwerke, Pläne und Ziele. Der Autor ist dafür ein kenntnisreicher Flaneur in der Leipziger Musikgeschichte. Was die unter dem Marketing-Label „Musikstadt“ im Jahr 2018 zusammengefassten Großprojekte betrifft, gelang Kunze das demzufolge glänzend. Unter anderem beleuchtet er das Lavieren der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts mit der repräsentativ nutzbaren Qualität des Thomanerchors und dessen kirchlich orientierter Selbstdefinition.
Thematisiert werden Leipzig-Highlights wie Bach als Thomaskantor, Mendelssohns Gewandhaus-Ägide, die Belebung des klassischen Musikgeschehens durch Jazz und Beat, die von Kurt Masur geförderte Gründung von Steffen Schleiermachers Ensemble Avantgarde und die musikalische Erneuerung der Quartiere Plagwitz und Connewitz. Daneben gibt es zu wenige Beiträge über Personen, die auch in anderen Darstellungen vernachlässigt wurden. Kapellmeister Heinrich Marschner (Der Vampyr), Thomaskantor Gustav Schreck (Bemühungen um das romantische Oratorium) und der am Konservatorium lehrende Orgelkomponist Sigfrid Karg-Elert fehlen oder werden allenfalls marginal erwähnt. Kunze nennt das Haus Dreilinden nur als Ersatzspielstätte nach dem Zweiten Weltkrieg, aber nicht als heute beliebtes Stammhaus der Musikalischen Komödie, die mit eigenem Orchester eines von nur noch zwei Repertoiretheatern Deutschlands für Operette und Musical ist.
Neben Clara Schumann, Anna Magdalena Bach oder Annette Humpe, der Produzentin der Leipziger Band „Die Prinzen“, ist Kunzes Musikbiografie weitgehend frauenfrei: Erwähnt werden nicht einmal wichtige Persönlichkeiten wie Ethel Smyth, die mehrere Jahre in Leipzig studierte und 1898 am Nationaltheater Weimar ihre Oper Fantasio herausbrachte, auch nicht die Komponistin Ruth Zechlin (stellvertretende Nikolaikantorin 1943), nicht die in Joachim Herz’ bahnbrechender Leipziger Ring-Inszenierung als Brünnhilde mitwirkende Sigrid Kehl oder Livia Frege, die als Salonière und Mitbegründerin des Leipziger Bachvereins aktiv war.
Mit engagierter Deutlichkeit skizziert Kunze dafür den andienenden Opportunismus des Gewandhauskapellmeisters Hermann Abendroth im Nationalsozialismus sowie das lange versäumte Gedenken an den Dirigenten Gustav Brecher, der die Leipziger Oper bis 1933 mit Uraufführungen von Krenek und Weill an die Spitze der Moderne katapultiert hatte.
Roland Dippel