Weiler, Klaus

Gerhard Taschner – das vergessene Genie

Eine Biographie

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Wißner, Augsburg 2004
erschienen in: das Orchester 11/2005 , Seite 83

Gerhard Taschner (1922-1976) wurde 1941 im Alter von neunzehn Jahren Konzertmeister bei den Berliner Philharmonikern unter Furtwängler. In den folgenden Jahren war er häufig als Solist mit dem Orchester und anderen Spitzenorchestern zu hören. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete er sich dann ausschließlich seiner Solokarriere, und bis zu seinem Abschied vom Konzertpodium im Jahr 1961 (es folgten noch vereinzelte Konzerte bis 1963) zählte er zur deutschen Geigerelite. Bald nach seinem Tod jedoch geriet sein Name mehr oder weniger in Vergessenheit.
In den vergangenen Jahren gab es nun verstärkte Bestrebungen, das Andenken dieses großen Geigers wiederzubeleben. 1994 gründete sich eine Taschner-Gesellschaft (www.taschner.org), etliche seiner Aufnahmen aus Rundfunkarchiven wurden auf CD aufgelegt und es erschienen mehrere Würdigungen und eine Dokumentation (2000).
Jetzt hat der Geiger und Musikbibliothekar Klaus Weiler eine Monografie vorgelegt, die sich auf eigene Erinnerungen, Gespräche mit Taschners Kollegen und seiner geschiedenen Frau stützt sowie auf zahlreiche Dokumente – Konzertprogramme, Rezensionen und Bildmaterial. So gelingt es Weiler, etliche Lücken in Taschners Biografie zu schließen und ein lebendiges Bild von dessen Aufstieg, der glanzvollen, aber relativ kurzen Karriere und ihrem tragischen Ende aus „physisch-psychischen Gründen“ zu entwerfen. Eine ausführliche Repertoireliste und Diskografie ergänzen den biografischen Abriss, und man vermisst nur eine Zeittafel, die dem Ganzen noch etwas mehr Übersichtlichkeit gegeben hätte.
Da das Buch auch äußerlich sehr ansprechend gestaltet ist und zahlreiche Abbildungen (auf gutem Papier gedruckt) enthält, könnte man es uneingeschränkt empfehlen – wenn nicht der Autor in seinem Bestreben, Taschner zu rehabilitieren, sich zuweilen auf sehr brüchiges Eis begeben hätte. Die biografische Darstellung und das erste Kapitel („Der Künstler in seinem Umfeld – Historisch-politische und kulturelle Aspekte und Perspektiven“) sind durchsetzt mit Vergleichen zwischen Taschner und anderen großen Spitzengeigern und Äußerungen über das Verhältnis von Musik und Politik, die man als bestenfalls sehr subjektiv bewerten muss.
Die zeitgenössischen Berichte und besonders die vorliegenden Aufnahmen werden jeden Geiger von den enormen technischen, tonlichen und gestalterischen Qualitäten Taschners überzeugen. Und sicher werden die Autoren einiger Standardwerke über die großen Geiger des 20. Jahrhunderts ihr Urteil etwas zu Taschners Gunsten revidieren müssen. Aber wenn Weiler Taschner mit anderen Geigern vergleicht und deren Leistung dabei heruntersetzt, dann macht dies Taschner nicht zu einem besseren Geiger. Im Gegenteil – der Leser beginnt sich ob der angehäuften Superlative über dessen Spiel etwas unwohl zu fühlen und an der Objektivität des Biografen zu zweifeln. Was bezweckt Weiler, wenn er Menuhin wegen einer angeblichen „gewissen Distanziertheit und Sachlichkeit“ kritisiert, Szeryng vorwirft, bei ihm lebe „das Ganze nicht“ und Hilary Hahn „die persönliche Identifizierung mit der Musik“ abspricht? In einer Biografie – so schließlich der Titel des Buchs – sind solche Bemerkungen bestenfalls überflüssig, und man wundert sich, dass die Verlagslektoren diese und andere ähnliche Passagen nicht einfach gestrichen oder mindestens auf einer sauberen Trennung vom rein biografischen Teil des Buchs bestanden haben.
Man kann nur hoffen, dass sich der Leser durch Weilers Exkurse nicht von der Substanz des Buchs ablenken und von der lohnenswerten Begegnung mit einem großen Geiger abbringen lässt.
Martin Wulfhorst

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