Stahmer, Klaus Hinrich
Gerettete Blätter
für Violine solo
Äußerst selten nur erfährt man von einem Komponisten so viel zum Hintergrund, zur Entstehung und zum formalen Aufbau eines Werks, wie Klaus Hinrich Stahmer im Vorwort zu seinen Geretteten Blättern für Violine solo preisgibt. Zusätzlich lässt Stahmer den Ausführenden (und sein Publikum) wissen, was er mit seinem Werk erreichen möchte: ein musikalisches Zeichen setzen gegen den Ungeist der Bücherverbrennung.
Wie erreicht der 1941 in Stettin geborene Komponist dieses außermusikalische Ziel? Zunächst einmal durch Zitate aus Werken entarteter Komponisten wie Erwin Schulhoff, Paul Ben-Haim, Paul Hindemith, Karl Amadeus Hartmann oder Béla Bartók. Um diese meist kurzen Zitate oder Partikel besser erkennen zu können, sind die entsprechenden Stellen im Notentext mit einem In memoriam
gekennzeichnet. Doch Klaus Hinrich Stahmer belässt es nicht bei einfachen, weitgehend unverfremdeten Anleihen bei seinen Komponistenkollegen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Er versucht vielmehr, die gesamte Solosonate für Violine wie ein Werk aus dieser Zeit klingen zu lassen allerdings nicht in einer auf lineare Entwicklung setzenden, sondern vielmehr an eine Collage erinnernden Form.
Klaus Hinrich Stahmer ist bekannt dafür, in vielen seiner bisherigen Werke außermusikalische Bezüge gesucht und außerhalb der traditionellen klassischen Musik angesiedelte Arten der Tonerzeugung verwendet zu haben. In seinen Geretteten Blättern geht er auf eine etwas abstraktere Art über die üblichen musikalischen Grenzen hinaus, indem er die angesprochene Collage-Technik geradezu als ein Abbild des dargestellten außermusikalischen Inhalts, der Bücherverbrennung, sieht: die verkohlten Notenblätter mit einzelnen Werkbruchstücken, die zu einem klingenden In Memoriam zusammengesetzt werden.
Damit dieses sehr konstruiert wirkende Komponieren nicht zu reiner Kopf- oder Augenmusik führt, strukturiert Stahmer sein Werk übergreifend in drei Teile: Einem getragenen Einleitungsteil folgt ein furioses, chimärenhaftes Presto, dem, den Rahmen vervollständigend, ein wieder ruhigerer Schlussteil folgt. Und auch ein weiteres Stilmerkmal bewahrt diese Geretteten Blätter davor, allzu theoretisch zu klingen. Klaus Hinrich Stahmer widmet seiner instrumentalen Protagonistin durchaus musikantische Konturen, klangvolle Linien und virtuose Höhepunkte. Die Violine darf in diesem vor knapp drei Jahren entstandenen und dem Geiger Herwig Zack gewidmeten Werk alles geben vom tiefbetrübten Lamento bis hin zum rabiaten Wutausbruch ist (fast) die gesamte Skala der Emotionen gefragt.
Daniel Knödler