Roland Dippel
Gera: Humanist ohne Machtgen
Gottfried von Einems Büchner-Oper „Dantons Tod“ in Gera
Eine Premiere aus langer Lockdown-Warteschleife wurde zu einem starken Opernabend. Dantons Tod, Gottfried von Einems Sensationserfolg bei den Salzburger Festspielen 1947, erlebte eine Renaissance in Magdeburg, München, Wien und ab 16. September beim Theater Altenburg Gera – die Zeit der Pariser Terreur rückt in beklemmende Nähe.
Im Geraer Jugendstil-Theaterhaus rundet sich der Orchestersteg weit in das Hufeisen-Oval. Die offene Akustik steigert die grelle Wirkung. Kay Kuntzes Inszenierung fordert plakative Erschütterung und will historische Deutlichkeit: Typoskripte auf dem Zwischenvorhang verdichten die Hintergründe in Distanz zur Handlungszeit 1794 und erheben diese zur Allgemeingültigkeit. Wenn die Lichtgestalt Lucille, Desmoulins’ Frau und hochschwanger, ihr provokatives „Es lebe der König“ stammelt, stirbt sie ohne Schusssalve. Da kommt Einems Oper in Gera der Aura und dem Gehalt von Georg Büchners Dramentext am nächsten.
Kay Kuntze macht Lucille zur dritten Hauptfigur neben Danton und dem sittenstrengen Politiker Robespierre. Johannes Pietzonka in seiner ersten großen Partie als Charaktertenor spielt den Tugendwächter mit starren Bewegungen, stierem Blick und soldatischer Selbstbeherrschung. Damit ist er das Gegenteil von Danton, an dem der Komponist „die Fülle, die Vitalität, das gewisse laisser vivre“ liebte. Danton geht mit seiner Eleganz und Persönlichkeit in Martin Fischers mit Rot gefluteten Flächen zwischen den klobigen Seitenwänden auf. Wenn Danton über die Einsamkeit des Menschseins räsoniert, hat das von Alejandro Lárraga Schleske auch stimmlich eine jungenhafte Lässigkeit. In den Farben und Massen der Bühne verschwimmt Schleske allerdings, in der Gruppe der Hinzurichtenden ist er fast unauffällig. Diesem Danton glaubt man kaum, dass er die machtvolle Gegenkraft zum eiskalten Robespierre war. Dazu fehlt seinem Freisinn die rhetorische Energie, zeigt er im Gegensatz zu seinem emotional erkalteten Gegner wenig Autorität. Schleskes Danton ist Humanist ohne Machtgen.
Kuntze geht es bei den eingeblendeten Zitaten um die staatstheoretischen und philosophischen Aspekte der ihre Kinder fressenden Revolution. Das Lauern der Massen auf das Schlachten gerät deutlicher als die Angst, selbst wenn GMD Ruben Gazarian mit dem Philharmonischen Orchester Altenburg Gera neben der Gewalt auch den Glanz und die Rundungen der Einem’schen Klangsprache modelliert: große Oper in nur 90 Minuten, die Wesentliches mit Mut zur Lücke und auf knappem Zeitraum mit großer Geste anprangert. Lucilles Klagen gehen Anne Preuß mit großer Intensität von den Lippen. Sowohl ihr Empirekleid wie ihr Ausdruck machen sie zu Dantons Gesinnungsgenossin, während Isaac Lee als ihr Mann Desmoulins unverhältnismäßig streng wirkt. Fast alle anderen sind deutlich konturierte Episodenfiguren: Jasper Sung als Hérault de Séchelles, Roman Astakhov als St. Just, Johannes Beck als Herrmann, Kai Wefer als Simon und Joanna Jaworowska als Dantons Frau Julie.
Von Einem gewährt in dem von ihm mit Boris Blacher eingerichteten Textbuch wenig Zeit für die Profilierung der Figuren. Diese sind in ihren Reaktionen den grausamen Ereignissen hinterher. Trotzdem kommt die Szene immer wieder zum Stillstand, wenn der Chor zum quellenden Teig aus Masse und Macht wird. Unter der Leitung von Alexandros Diamantis geraten diese Massen so messerscharf wie Robespierre, während Danton als Freigeist der Mitte zerfasert.
Es gab großen Applaus. Die von Anne Preuß berückend gesungenen Kantilenen entließen das Publikum ins Ungewisse einer weitaus komplizierteren Gegenwart.
In der zweiten Spielzeit von GMD Ruben Gazarian gibt es noch mehrere durch die Corona-Verschiebungen beeinflusste Positionen. Kapellmeister Thomas Wicklein und Kay Kuntze, dessen Generalintendanz bis 2027 verlängert wurde, bringen Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel zur Premiere, während in der Ersatzspielstätte Theaterzelt Altenburg eine Wiederaufnahme von Tschaikowskys Eugen Onegin herauskommt. Im Frühjahr folgt Cole Porters Musical Anything Goes im Theaterzelt Altenburg. Ballettdirektorin Silvana Schröder choreografiert Léo Delibes’ Ballett Coppélia – Das Mädchen mit den Glasaugen in Gera.
Fast jedes Philharmonische Konzert bietet eine programmatische Besonderheit: Im Oktober wurde in Kooperation mit dem Landesmusikrat Thüringen der Thüringer Kompositionspreis an Ilias Rachaniotis (*1978) verliehen, als Uraufführung erklang dessen Sommernachtstanz. Konzert für Orchester. Das Konzert im November stand im Zeichen des Festjahrs Heinrich Schütz und Heinrich Posthumus Reuß. Im 5. Konzert erklingen Ethel Smyths Vorspiel zum 2. Akt der Oper The Wreckers („An den Klippen von Cornwall“) und ihr Konzert für Violine, Horn und Orchester, es dirigiert GMD Ruben Gazarian. Im 6. Konzert gelangt das Auftragswerk Umbra Vitae. Szenen für Bariton und Orchester mit Texten von Georg Heym von Steffen Schleiermacher (*1960) zur Uraufführung.