Vera Grund/Nina Noeske (Hg.)

Gender und Neue Musik

Von den 1950er Jahren bis in die Gegenwart

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: transcript
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 64

Nur 5,3 Prozent der Werke in Konzertprogrammen der Spielzeit 2018/19 waren von Komponistinnen, so ermittelt von der Organisation Donne – Women in Music. Das ist definitiv zu wenig! Nicht nur deshalb ist dieser Band notwendig und dringlich, überzeugt allerdings an vielen Stellen mehr durch selektive Affirmationen von Details und tradierten Metaphern als durch seinen unmittelbaren Aktualitätsbezug zu den durch Judith Butler angestoßenen Genderdiskursen.
Nicht nur das Modeverhalten von Akteuren der Neuen Musik bei den Biennalen in Venedig und München, von Graz bis Witten ist weitaus vielfältiger als es Tatjana Mehner in ihrer Polarisierung vom „schwarzen Pulli des Komponisten“ zum „Kleid der Pianistin“ aufreißt. Unberücksichtigt bleibt die textile Vielfalt, mit der seit Längerem Sängerinnen in Sir-Outfits und Komponisten mit Nana-Mouskouri-Brille im bis zum Bauchnabel offenen Hawaii-Retrohemd zur mitunter ironischen Queerisierung normativer Geschlechteroutfits beitragen.
Es gibt nur wenige Stellen, in denen die Aufsätze aus der Perspektive der Neuen Musik in andere Musikgenres oder Szenen wechseln, so wie etwa Nina Noeske in der Einleitung zu „(Neue) Musik und Gender in der DDR“ die frühere gesamtgesellschaftliche Situation skizziert. Eine objektive Darstellung erfährt allerdings, wie und warum M/F/D-Mauerblümchen hinsichtlich Kommunikation im kreativitätsfördernden Schwellenbereich der Darmstädter Ferienkurse zwischen Arbeit und Party neben extrovertierten Temperamenten bei der Netzwerk-Pflege Benachteiligungen erleiden.
Nicht nur männliche Leser könnten von Vera Grunds Aufsatz irritiert sein. Sie erschließt tendenzielle Zuschreibungskategorien von „Klang-Kitsch“ zu Fraulichkeit und „Avantgarde“ zu Männlichkeit:
„Die komplexen Diskurse sind von Denkstrukturen durchwandert, die das Geschlecht mit bestimmten Qualitäten verbinden; für Diskriminierungen werden sie dadurch abrufbar.“ Zum anderen überraschen Exkurse wie der von Ute Henseler in ihrer Analyse von Mütter-Partien in Kaija Saariahos Monodram Émi-lie im Vergleich zu älteren Opern und zu Madama Butterfly, weil die Autorin die maßgeblichen wissenschaftlichen Arbeiten von Melanie Unseld und Elisabeth Bronfen ignoriert.
Objektivität und methodische Zielstrebigkeit zeigt Elisabeth Treydte. Sie zählt die „Praxis des
‚politischen Komponierens‘“ zu „Modeerscheinungen“. Mittels vieler Textporträts von Komponistinnen und Komponisten in der Neuen Zeitschrift für Musik präsentiert Treydte die im führenden Fachmagazin für Frauen und Männer unterschiedlich stabilisierten Narrative: Politisches Engagement contra Emanzipation, genuine Kreativität contra soziale Verbundenheit seien in der NZfM deutliche Wertungsbausteine für spezifisch männliches bzw. frauliches Komponieren.
Insofern bietet der inhaltsreiche Band weniger zukunftsorientierte Erkenntnisse als mehr die Kollektion von außermusikalische Kontexte spiegelnden Phänomenen in der Sphäre Neuer Musik.
Roland Dippel