Kutschke, Beate
Gemengelage
Moralisch-ethischer Wandel im europäischen Musiktheater um 1700: Paris, Hamburg, London
Kein einfaches, kein einfach zu lesendes Buch hat Beate Kutschke vorgelegt und kein einfaches Thema hat die Autorin sich vorgenommen. Ihre Ansätze und Definitionen, etwa den Begriff der Sattelzeit* über die vom Historiker Reinhart Koselleck chronologisch vertretene Übergangszeit neu zu besetzen, scheinen aus der Sichtweise der traditionellen musikhistorischen Forschung durchaus gewagt. Kutschkes für ihre Studie verwendetes Material allein lässt schon aufhorchen und lädt trotz anfänglicher Eingewöhnungsphase durchaus zu einer über lange Strecken fesselnden Lektüre ein, um die Gemengelage in allen Facetten mentalitätsgeschichtlich zu erkunden.
Der Titel vermeint das Zerstreute hervorzuheben, wenn man ihn vordergründig aus der Kultur und Urbarmachung von Feldern und Wäldern begreift. Vor dem Hintergrund der neu zu verstehenden Sattelzeit verweist er auch auf die unvermutete Begegnung von zunächst weit Entferntem. Es geht dabei nicht nur um die Einsicht in Zusammenhänge in einer Phase der Transformation, sondern um die Erkenntnis des Wandels von moralisch-ethischen Anschauungen, der sich explizit auf der Opernbühne kundtut, also um neue ethische Perspektiven und moralische Imperative.
Kutschkes Ansätze zielen weit über die auf das Fach Musik begrenzte geistesgeschichtliche Darstellung hinaus. Angestrebt wird für die komplexe Einsicht in den Opernbetrieb einer Übergangsphase eine kulturgeschichtliche Dimension. Die Autorin erkennt und arbeitet die geistes- und mentalitätsgeschichtliche Bedeutung des europäischen barocken Musiktheaters am Beispiel von Paris, Versailles, Hamburg und London zusammenhangstiftend heraus. Musik wird nicht isoliert analysiert oder auf der Suche nach ihrer Ästhetik punktuell untersucht, sondern als Linse oder Filter genutzt, der über den moralisch-ethischen Transformationsprozess überraschende und überzeugende Auskunft geben kann.
Wesentlich für das Verständnis sind neben philosophischen Grundlagen vor allem Erkenntnisse über kognitive Mechanismen und die Einsicht in das Phänomen der Analogiebildung; dies statt der herkömmlichen Interpretation von musikalisch-rhetorischen Figuren etc. Was wann wo als gut oder schlecht gegolten hat, wie Werturteile sich gebildet haben und mit Emotionen verknüpft sind, dies wird herausgearbeitet, der Komplex des Naturrechts und der Sittenlehre an der Oper exemplifiziert. Überaus spannend lässt sich mit Kutschkes Deutungshinweisen in den Hamburger Gänsemarktopern das veränderte Treuekonzept und das entstehende Konzept der Anerkennung verfolgen. Operngeschichte einmal mehr gegen den Strich gekämmt!
Iris Hildegard Winkler