Christoph Wagner
Geistertöne
Gespräche über Musik jenseits der Genregrenzen
Die achtzehn Texte des Bandes sind Interviews bzw. basieren auf Gesprächen, die Christoph Wagner seit 1997 mit Komponisten, Musikern, einem enzyklopädisch tätigen Sammler und Publizisten sowie einem musikalisch ambitionierten Architekten geführt hat. Den Titelbegriff „Geistertöne“ übernahm Wagner aus seinem Text über Minimal Music, wo er für die Klangvisionen steht, denen Terry Riley und sein Studienfreund LaMonte Young experimentierend auf der Spur waren.
Das Wort passt als Superformel für das weite Spektrum der außergewöhnlichen Klangwelten, die die porträtierten Künstler (darunter Christian Wolff, George Crumb, Meredith Monk, Morton Subotnik, Borah Bergman, John Tchicai, David Harrington) in ihren diversen musikalischen Kreationen entfalten. Wagner beschreibt dieses Spektrum in der Einleitung des Buchs so: „Zwischen zeitgenössischer Komposition, moderner Improvisation, Elektronik, avanciertem Rock, Acid-Folk und traditionellen Musiken der Welt wächst ein musikalisches Areal, auf dessen Boden sich Archaisches mit Avantgardistischem, Populäres mit Experimentellem verbindet, eigene mit fremden Traditionen, Improvisation mit Komposition und Grooves mit Loops – oft über Kontinente hinweg.“
Das „jenseits der Genregrenzen“ im Untertitel meint also eine Aufweichung oder gar Auflösung der besonders in der Vorstellungswelt artifizieller westlicher Kunstmusik vorhandenen Separierungen musikalischer Biotope wie U und E, Avantgarde, Jazz, Rock, Folk etc. Die in den Beiträgen vorhandene Vielfalt weitet bzw. überwindet den eurozentrischen Horizont und zeigt diverse Erscheinungsformen von produktiven Verbindungen unterschiedlicher Kulturkreise.
Wagner gruppiert seine Texte in folgende sieben Themenfelder: Klangutopien, Avantgarde in der flüssigen Moderne, Reduktionismus, Elektroträume, Jazz-Moderne, Afro-Futurismus sowie Polyfonie und Diversität. Mit durchweg knapp gehaltenen Fragen bringt er seine Interviewpartner dazu, mehr oder minder eingehend die Spezifik ihrer musikalischen Arbeit darzustellen. Die Lektüre vermittelt vielerlei Einblicke in die Werkstätten der einzelnen Künstler. Zur Sprache kommen ihre oft verschlungenen Erfahrungswege, ihre ästhetischen Leitvorstellungen, ihre Partnerschaften mit anderen Künstlern und mit Institutionen des internationalen Musiklebens.
Die enorme Spannweite der in diesem Band thematisierten Arten von Musik und musikalischen Praxen bedingt unweigerlich, dass sich in der Auswahl der Interviewpartner subjektive Präferenzen des Autors spiegeln. Gerade aber die mit Mut zur Subjektivität ausgebreitete Diversität der vorgestellten Künstler und ihrer Musik macht die Lektüre des Bandes spannend. Wer sich auf diese Vielfalt einlässt, wird viel Unbekanntes entdecken, und wer die vielen in den Interviews genannten, fast alle im Internet zu findenden Modellstücke hört, weitet seinen musikalischen Horizont in bislang unerhörte Regionen aus.
Ulrich Mahlert