Winkelmann-Liebert, Holger
Geiger Meier
Ein Finale furioso
Geiger Meier war einst Konzertmeister seines Orchesters, verlor wegen seiner Alkoholsucht seine Stelle, trat erneut zum Probespiel an und absolvierte es so glänzend, dass er wieder engagiert wurde allerdings nun am 5. Pult der 1. Geigen. Dort spielte er bis zu seiner Pensionierung. Nun kämpft er darum, als Aushilfe weiter mitspielen zu dürfen. Doch sowohl die Gruppe der 1. Geigen als auch Dirigent und Intendant sind dagegen. Für Meier, der sich gerade einen neuen Frack gekauft hat, bricht eine Welt zusammen: Er erleidet einen Nervenschock, nimmt keine Nahrung mehr zu sich und stirbt entkräftet.
Meier ist ein Mensch, der ganz und gar für die Musik lebte woran sogar seine Ehe zerbrach. Nach Überwindung seiner Trunksucht lebte er enthaltsam, auch was Frauen betraf. Sein einziges Glück waren die Konzerte, wie das letzte, das er mitspielen darf, mit Bruckners 9. Symphonie. Ein Leben ohne Geigenspiel ist für ihn kein Leben. Doch dieses Leben im Orchester ist für ihn auch eine Qual: Eigentlich sieht er sich als Konzertmeister, der er einmal war. Dass nun ein Russe Konzertmeister ist, missfällt ihm. Dass nun Frauen im Orchester mitspielen, was in seinen jungen Jahren noch unmöglich war, missbilligt er. Er ist ausländer- und frauenfeindlich. Die Autorität des Dirigenten und die des Konzertmeisters erkennt er nicht an, wählt Stricharten und Artikulationen, wie er es für richtig hält. Kunst, schreibt Holger Winkelmann-Liebert, verlangt Selbsterniedrigung. Doch dagegen kämpft Geiger Meier, wenn auch vergeblich, und stirbt. Dass sein Widersacher, Konzertmeister Stepanowitsch, Selbstmord wegen der Diagnose Lungenkrebs begeht, erfährt Meier nicht mehr.
Das Orchester ist in Holger Winkelmann-Lieberts Roman ein Ort des Hasses, einer gnadenlosen Hierarchie, einer fast militärischen Unterordnung (der Titel Geiger Meier spielt auf das militärische Gefreiter Müller an) und eines fast unerreichbar hohen Leistungsanspruchs. Das einzige Positive, was der Leser erfährt, ist das Glück Winfried Meiers, wenn er auf dem Podium sitzend bei der Bruckner-Symphonie mitspielt, und die Freude über den Kauf seines neuen Fracks.
Der Roman ist spannend geschrieben. Es zieht den Leser in den Sog der psychischen Abgründe, die sich hinter der glänzenden Fassade eines Orchesters öffnen. Alter, Aufhörenmüssen und nicht können, nicht mehr auf der Höhe der Zeit sein, nicht den Wandel des Orchesters, seine Öffnung für Frauen und den globalen Musikermarkt, mitvollziehen zu können, sind wichtige Themen, die hier anklingen. Es ist ein erschütterndes Buch, da hier die Größe der Musik und die Kleingeistigkeit der Menschen, die sie hervorbringen, so sehr auseinderklaffen. Aber eine Frage stellt sich der Leser schon: Warum wollte der Geiger Meier nicht so wie sein Freund ein entspannter Pensionist werden, wenn er schon so unter seinen Orchesterkollegen litt? Doch Bücher, die Fragen offen lassen und zu weiterem Denken anregen, hallen besonders lange nach.
Franzpeter Messmer