Werke von Sergej Prokofjew und Franz Schubert

Gegenwelten

Sarah Christian (Violine), Lilit Grigoryan (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Genuin
erschienen in: das Orchester 12/2017 , Seite 68

Mehr als nur das zeitlich Äußere scheint auf den ersten Blick die beiden Werke zu trennen, welche die Geigerin Sarah Christian und Lilit
Grigoryan am Klavier vom 12. bis 14. Oktober 2016 im Sendesaal Bremen einspielten: die Fantasie C-Dur D 934 von Franz Schubert und die Sonate Nr. 1 f-Moll op. 80 von Sergej Prokofjew. Beide Werke liegen mehr als einhundert Jahre auseinander, stilistisch klaffen eigentlich Welten dazwischen: dort Romantik pur unter Metternich, hier sowjetischer Realismus unter Stalin, wobei als verbindender Zufall jeweils Despoten an der Macht waren, obwohl der Erlebniskontext bei Prokofjew sicherlich ungleich grausamer war als bei Schubert.
So scheint der Titel Gegenwelten seine Erfüllung zu finden. Liest man das mit philosophischen Gedanken getränkte Booklet von Tilmann Böttcher, geht es den beiden Künstlerinnen indes um etwas ganz anderes. Nicht die Fantasie und die Sonate bilden zueinander Gegenwelten, sondern in jeder der vorgestellten Kompositionen würden sich jeweils Gegenwelten zum bisher Erlebten verbergen, nach denen beide Komponisten auf der Suche waren; insbesondere auf der Suche nach Neuem in Form und Ausdruck. So sei das Durchbrechen musikalischer Normen wie das Nicht-Auflösen des offenen, zyklischen, also rückbesinnenden Schlusses bei beiden wahrzunehmen.
Nach dem Booklet sorge die Kunst für Gegenwelten: „Schubert dadurch, dass er bis heute unzeitgemäß ist, und Prokofjew, weil er von Beginn an mit der äußeren Welt verflochten ist… Und beide in ihren ureigensten und unmittelbarsten musikalischen Inhalten, indem sie uns von der Suche nach Trost in der Hoffnungslosigkeit erzählen.“
Unter diesen Aspekten nimmt der Hörer die Musik nun anders wahr, sie macht ihren Zugang wie in einem Gesprächskonzert leichter. Die beiden Künstlerinnen brauchen es nicht einmal darauf anzulegen, diese Gesichtspunkte markant herauszuschälen, weil ja die Musik eben in dieser wohl seltenen Zusammenstellung selbst spricht. Wie selbstverständlich bleibt nun in Kenntnis der biografischen Umstände bei Prokofjew eine herbe Bitterkeit zurück, bei Schubert eine mindestens romantische, sentimental-befreite Melancholie.
Darüber hinaus spielen die beiden Interpretinnen hohen Rangs sehr ernst und gewissenhaft, feinsinnig, anmutig und beseelt, mit leidenschaftlichem Feuer. Während Lilit Grigoryan am Klavier dynamisch und sehr anpassungsfähig den harmonisch und klanglich am besten ausgestatteten Boden bereitet, spielt Sarah Christian wie selbstverständlich mit vollmundigem Strich teils mit zarter Innigkeit, mit dynamischer Intensität, aber stets mit beredsamer Ausdrucksstärke. Und das sowohl bei Prokofjew als auch bei Schubert, der mit der Fantasie neue Ausdruckswelten entdeckte und deshalb ebenso eine Interpretation untergründiger Expressivität verdient. Ein seltenes Zusammentreffen zweier Musikerinnen, die Hohes anstrebten und dieses auf der CD auch begeisternd erreichten.
Werner Bodendorff