Björn Gottstein/ Michael Rebhahn (Hg.)

Gegenwärtig. 100 Jahre Neue Musik

Die Donaueschinger Musiktage

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Henschel
erschienen in: das Orchester 03/2022 , Seite 64

„100 Jahre Neue Musik“ – das klingt paradox, und ist es doch nicht, bezogen auf eine Institution, die über diese Zeitspanne hinweg in musikalischen Dingen stets am Puls der Zeit, stets „gegenwärtig“ war und bis heute ist. Zum runden Jubiläum der Donaueschinger Musiktage, dem weltweit ältesten Festival für Neue Musik, ist nun eine umfangreiche Publikation erschienen, mit der Björn Gottstein als einer der Herausgeber auch seine Tätigkeit als Leiter der Musiktage abschließt.
Fünf Autoren widmen sich in ihren Essays verschiedenen Phasen der Geschichte der Musiktage, deren Einteilung nach Jahrzehnten ihre Begründung in inhaltlichen, organisatorischen und politischen Wendepunkten findet. Ist die Gründungsphase geprägt von einer ganz und gar nicht elitären Aufbruchstimmung, die das avantgardistische Abenteuer mit volksfestartigen Veranstaltungen verbindet, so beginnt ab 1927 eine krisenhafte Zeit, in der die gesellschaftlichen Konflikte sich in ästhetischen Auseinandersetzungen widerspiegeln, bis schließlich die Nationalsozialisten die Musiktage als Propagandaveranstaltung umfunktionierten.
Die eigentliche Geschichte und Kontinuität der Donaueschinger Musiktage beginnt mit deren Neugründung 1950, die mit dem Namen Heinrich Strobel verbunden ist, welcher der jungen Nachkriegsavantgarde um Boulez und Stockhausen ein Forum bot, aber auch damalige Außenseiter wie Cage und Ligeti einlud. Die 1970er und 1980er Jahre standen unter der Leitung von Otto Tomek und Josef Häusler und mit Komponisten wie Kagel, Lachenmann, Schnebel und dem jungen Rihm im Zeichen einer Öffnung ästhetischer Konzepte. Und mit der politischen Wende folgte die Programmpolitik unter Armin Köhler einem Pluralismus, dessen Spektrum von Bernd Alois Zimmermann bis zu den Einstürzenden Neubauten reichte.
Neben den historischen Kapiteln widmen sich weitere Beiträge dem Jazz, der erst ab Mitte der 1950er Jahre in Donaueschingen zunehmende Beachtung fand, oder der Klangkunst, die noch lange auf Skepsis der etablierten Komponisten traf. Dass die Präsenz von Komponistinnen zwar in den letzten Jahren zunimmt, aber trotzdem noch weit von einer Parität entfernt ist und noch immer mit männlichen Klischees von „Weiblichkeit“ konfrontiert ist, zeigt Nina Noeske in ihrem Beitrag. In ähnlicher Weise behandelt Elisa Erkelenz das aktuelle Thema Dekolonisierung, das Fragen nach den Auswahlkriterien von Musik völlig neu stellt.
Eine zweite Textebene sind persönliche Statements von Komponisten und Komponistinnen, Journalisten oder Stammgästen der Musiktage wie Gerhart Baum, die dieser „Oase, wo das Hören zu sich selbst kommt“ (Lachenmann), ihre (auch kritische) Reverenz erweisen. Vor allem aber sind es auch die zahlreichen Fotos aus 100 Jahren, die aus diesem Lesebuch ein spannendes Bilderbuch machen. (Nur eine kleine Korrektur: Auf dem Foto S. 86 sitzt neben André Richard nicht Luigi Nono, sondern der Toningenieur des Experimentalstudios Rudolf Strauß.)
Klaus Angermann