Xiaogang Ye

Gardenia

for pipa and string quartet, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott
erschienen in: das Orchester 05/2020 , Seite 69

„Zwischen den Welten“, das scheint den 1955 geborenen chinesischen Komponisten Xiaogang Ye ganz gut zu beschreiben. Er lebt abwechselnd in Peking und in den USA, neben dem Komponieren pflegt er eine ganze Reihe weiterer Tätigkeiten, befasst sich als Mitglied des chinesischen Parlaments mit kulturellen Themen, ist Vizeorsitzender des Chinesischen Musikrats, Vize-Präsident des Central Conservatory of Music in Peking sowie Gründer und künstlerischer Leiter von „Beijing Modern“, dem größten Festival für zeitgenössische Musik im Fernen Osten.
Und natürlich ist er einer von Chinas profiliertesten Komponisten, dessen außerordentlich breit gefächertes und auch stilistisch sehr variables Œuvre von Sinfonik bis Filmmusik reicht. Seine Werke haben Eingang in das Repertoire von Weltstars wie Lang Lang gefunden und werden von renommierten Orchestern wie den New Yorker und den Münchner Philharmonikern gespielt.
Ye verleiht seiner tiefen Verbundenheit zu Natur, Kultur und buddhistischer Religion seiner Heimat Ausdruck in verschiedenen Kompositionszyklen wie etwa den Tibet Series und den Tropic Plants Series. Zu letzterer Sammlung von Kompositionen, die allesamt nach subtropischen Pflanzen benannt sind, gehört auch Gardenia, das vorliegende, etwa 12 Minuten lange Werk für Pipa – das ist die traditionelle Schalenhalslaute der alten chinesischen Musik – und Streichquartett aus dem Jahr 2017.
Im Vorwort der Ausgabe liest man: „In China steht die Gardenie für ewige Freude. Die Pflanze wächst in feuchter Umgebung und duftet zart. […] Die Gardenie ist auch das Symbol der Stadt Yueyang, einer Stadt in der Hunan-Provinz im Süden Chinas. Der Komponist verwendete Elemente von Volksopern und Volksliedern aus der Gegend von Yueyang in seinem Werk, um seiner großen Sehnsucht nach der wunderschönen Landschaft von Südchina Ausdruck zu verleihen.“
Xiaogang Ye hat hier ein Stück dichter Atmosphärenmusik geschrieben, ein sanft melancholisches Lob der Schönheit, stilistisch pendelnd zwischen folkloristischer Exotik, von Ferne an Bartók und Alban Berg erinnernder Expressivität, Semitonalität und gelegentlichen Clusterklängen. Diese Musik teilt sich sinnlich sehr direkt mit und nimmt sofort für sich ein durch Klänge von zarter, stiller, dabei graziler Zerbrechlichkeit, in der Folge sich steigernd bis zu beschwörender Intensität. Die aparte, allerdings außerhalb Chinas wohl nicht ganz leicht zu realisierende Besetzung mit Pipa verleiht der Musik zusätzlich einen besonderen, nicht alltäglichen Klangzauber. Gardenia fokussiert ganz und gar auf das ästhetisch-poetische, wenn man so will „kulinarische“ Element, wobei das feine Gespür Yes für Klangfarben und seine Gabe, Atmosphärisches durch Klänge emotionell direkt erlebbar zu machen, höchste Bewunderung abnötigt. Verstörendes, Schroffheiten, gar Provokantes sind seine Sache hier nicht, Mikrotonalität, „neue“, ungewöhnliche Spieltechniken etc. bleiben ausgespart. Aber originell und inspiriert ist diese Gardenia allemal. Und warum eigentlich soll Neue Musik nicht „schön“ klingen dürfen?
Herwig Zack