Wernli, Andreas
Frequenzen #03
Wolfgang Amadeus Mozart: "Der Welt ein Wunder verkündigen...". Galimathias musicum KV 32 / Kassation G-Dur KV 63 / Les petits riens KV 299b, mit CD
Hören geht schneller als lesen. Das muss nicht erläutert werden, weil das jeder aus dem Alltag kennt, aber darin verbirgt sich eine Grundproblematik der Musik und besonders der Musikwissenschaft. Auch Musik spielen geht schneller als Musik schreiben. Das ist ein Grundproblem des Komponierens, das jeder, der Musik notiert, erst einmal lösen muss. Texterläuterungen zu einem Allegro-Satz mitzulesen, während die Musik abläuft, ist daher unmöglich.
So ist Andreas Wernlis Ansatz, Mozarts Musik Sekunde für Sekunde zu beschreiben, zwar löblich in seiner beflissenen Genauigkeit und gut gemeint im Sinne eines Musik gehört und erklärt-Programms, aber insgesamt eher bedenklich. Es suggeriert etwas, was es nicht halten kann. Zumal sich diese Publikation zum Mozart-Jahr ein weitgehend kompetent geschriebenes und modern aufgemachtes Buch in der Reihe Frequenzen, die sich bisher nur mit moderner Musik befasste an Leser ohne musikalische Grundkenntnisse wendet. Wer sich aber im Laufe seines Lebens überhaupt keine musikalische Basis zu erwerben befleißigt hat, wird auch nicht die Geduld aufbringen, ein solches Buch-Musik-CD-Unternehmen in irgendeiner Weise wirklich verstehend zu rezipieren. Kurz: Noten lesen lernen ist mindestens genauso mühsam, wie das Lesen dieser Werkkommentare, die vorgeben, es leicht zu machen.
Worin besteht nun die Besonderheit dieser Veröffentlichung? Sie stellt vor und erklärt drei wenig bekannte Werke des jungen Mozart, den bunten Strauß verschiedenster kurzer Musikstücke mit dem Titel Galimathias musicum KV 32, die Kassation G-Dur KV 63 und das halbe Ballett aus Paris, Les petits riens KV 299b. Nach einem kurzen biografischen Abriss werden Entstehungsgeschichte und -umstände anhand der Briefe der Familie Mozart und anderer Quellen historisch genau dargestellt. Sodann werden diese Werke anhand einer mitgelieferten CD (Zürcher Kammerorchester unter Howard Griffith) in drei Hörgängen wortreich, aber ohne klingende Musikbeispiele außer den Gesamtaufnahmen in Lesetexten analysiert, und zwar nach Zeitangaben des Tonträgers. Verzichtet wird dabei auf Taktangaben und Notenbeispiele. Man setzt keinerlei Notenkenntnisse voraus.
Das liest sich dann etwa so (Hörgang 1): 0’01: Das Stück beginnt mit einem lauten Akkordschlag in allen Instrumenten: D-Dur, die Grundtonart wird vorgestellt, wie es sich gehört, 0’02 gefolgt von einem tiefer liegenden Wirbel in den 1. Violinen. Das Ganze nochmals, diesmal spielen die 1. Violinen den Wirbel etwas höher und die 2. Violinen begleiten untendran eine Steigerung, aber innerhalb des einen Akkords. 0’04 folgen vier Akkordschläge das >eins, zwei, drei, vier< des Viervierteltakts; sie schließen diesen Anfang ab. Er wird 0'06 nochmals genau gleich wiederholt [
] Und wenn sie [die Violinen] 0'13 ihren höchsten Ton erreicht haben ein d, den Grundton dieser Tonart , werden auch die Bratschen und Bässe vom Aufflugeffekt erfasst und sausen in die Höhe, um 0'14 durch den Klangraum niederzusteigen und 0'17 auf einem neuen Akkord zu landen (A-Dur), gegen den die Violinen noch zweimal anrennen, bis er zum Stillstand kommt
Der Musikkenner ahnt, was gemeint sein könnte und legt die Stirn doch unentwegt in Falten. Wie soll der Ablauf einer musikalischen Form verstanden werden können mit Sekundenangaben? Und der musikalische Anfänger wird fragen: Was ist ein neuer Akkord? Was eine Grundtonart, was ist D-Dur, was A-Dur, was ein Viervierteltakt, was ist ein Wirbel? Und was zum Henker sind Bratschen??
Man fragt sich letztlich, was hier eigentlich erklärt werden soll und wem? Für Musikschüler solche soll es ja immer noch geben, die lernen, Geige, Klavier oder Gitarre nach Noten zu spielen ist dieses Buch unbrauchbar, da die Erklärungen musikalisch ungenau sind und allein vom Höreindruck ausgehen. Selbst geübte Ohren täuschen sich gelegentlich: Wie erst ein unbedarfter Anfänger? Für Erwachsene ohne musikalische Kenntnisse werden mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben werden. Als Lesebuch für Musikfreunde mit wenigen, traditionell geschulten Musikkenntnissen taugt es genauso wenig, da es gänzlich auf das verzichtet, was die Basis jedes Erklingens klassischer Musik ist: ihre abstrakte Verschriftlichung in Form von Noten. Diese, notabene, hat ihr nicht zuletzt das Überleben gesichert und wird es auch weiterhin tun.
Matthias Roth