Georg Rudiger

Freiburg: Wo sind wir?

Beklemmend-eindrucksvoller Abend zum Thema Flucht mit zwei Uraufführungen

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 01/2023 , Seite 51

Die einen sind aus ihrer Heimat Vietnam geflohen, weil sie sich in Großbritannien ein besseres Leben erhofften und dafür den Schleppern rund 15000 Euro pro Person bezahlten – am Ende sind alle 39 Menschen tot; erstickt in dem Container, in dem sie ins ersehnte Land geschmuggelt wurden. Die anderen werden nach und nach durch Künstliche Intelligenz beobachtet und gesteuert. Die versprochene goldene Zukunft wird zur Unfreiheit: „Escape“ – Flucht – heißt der unbequeme Abend im Kleinen Haus des Freiburger Theaters, der gleich zwei Musiktheater-Uraufführungen präsentiert. Großer Applaus für die jeweils rund 45-minütigen Produktionen, die ein Ensemble des Philharmonischen Orchesters Freiburg unter der Leitung von Detlef Heusinger mit dem SWR Experimentalstudio (Klangregie: Maurice Oeser und Thomas Hummel) und Gesangs­solist:innen zusammenbrachten.
Die Flächen der drei Räume, die auf der Bühne durch einen Rahmen am Boden markiert sind, entsprechen genau den Maßen von LKW-Containern. In der Mitte ist das Instrumental­ensemble platziert, im rechten der schmalen Rechtecke liegen Kleider, im linken stehen eng gedrängt gesichtslose Menschen (Bühnenbild und Kostüme: Christian Wiehle, Regie: Thomas Fiedler). Bei Ying Wangs Musiktheater Lorry 39 treffen gedämpfte Trompetenklänge auf Glissandi in den Streichern. Die Musik sorgt für permanente Verunsicherung und setzt von Anfang an die tragische Geschichte unter Spannung. „Könntest du bitte das Licht anschalten? Wie lange dauert es? Wo sind wir?“ – lauten die ersten Sätze im englischen Libretto, die von der Mezzosopranistin Inga Schäfer artikuliert werden.
Auf der Leinwand oberhalb der Bühne erscheint das Innere eines Containers (Video: Stefan Bischoff, Kevin Graber). Am 23. Oktober 2019 fand man in solch einem Stahlquader in Essex im Südosten Englands die Leichen von 39 Migrantinnen und Migranten aus Vietnam. Andreas Karl hat einige ihrer Handynachrichten in sein Libretto eingearbeitet. Inga Schäfer spricht, deklamiert und singt diese kurzen Sätze in ­kan­tablen Linien. Dazwischen hört man immer wieder Atemgeräusche, Herzschlag und elektronische Beats, zu denen sich die Statist:innen des Theaters beugen und krümmen. In den Videos wird dieser Todeskampf noch sichtbarer. Hier nehmen einige ihre Maske ab und zeigen ihre Angst, ihren Schmerz, ihren Schweiß. Die folgende Stille und Dunkelheit machen beklommen.
A Cerebral’s Rhapsody von Huihui Cheng ­(Libretto: Pat To Yan) fußt auf keiner realen ­Geschichte, aber die darin gezeigte Utopie – oder Dystopie? – ist in Ländern wie China schon Realität. Am Anfang glaubt die Gesellschaft noch den Verheißungen des smarten Programmierers (mit geschmeidigem Tenor: Hyunhan Hwang), dass mit dem Sammeln von Daten alles besser werden würde. Nur ein Mensch (von kantabel zu Beginn bis hysterisch am Ende: der Bariton Lorenz Kauffer) ist von Beginn an skeptisch. Er misstraut der neuen Welt, wenn er von einem beweglichen Scheinwerfer gescannt wird, um seine Persönlichkeit durchleuchten zu lassen. Faszinierend wird die Musik, wenn Inga Schäfer als Künstliche Intelligenz ihre zu Beginn noch roboterhaft klingende Stimme nach und nach mit Emotionen anreichert: Liebe, Leidenschaft, Begierde.
Das SWR Experimentalstudio packt hier seinen digitalen Zauberkasten aus und setzt Hall hinzu, spaltet Frequenzen ab und streut glitzernde Partikel über die Gesangslinie. Die Künstliche Intelligenz wird immer menschlicher, was den Programmierer freut. Nur der normale Mensch möchte fliehen aus dieser perfektionierten, überwachten Welt.