Vitezslava Kaprálová, Nadia Boulanger, Lili Boulanger u.a.

Frauenstimmen

Anna Fortova (Violoncello), Kathrin Schmidlin (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Claves
erschienen in: das Orchester 06/2021 , Seite 78

Das Ideal wäre erreicht, wenn kompositorische Frauenstimmen gar nicht mehr unter diesem Label firmieren müssten, sondern in selbstverständlicher Nachbarschaft ihrer männlichen Kollegen sicht- und hörbar wären. Heutzutage müssen Komponistinnen (hoffentlich?) nicht mehr befürchten, aus Gender-Gründen diskriminiert zu werden. Die 1986 geborene Schweizerin Stephanie Haensler schrieb für Anna Fortova und Kathrin Schmidlin Ni dónde, ni cómo (Weder wo, noch wie), eine subtil ausgehörte, zwischen Geräuscheruptionen, zarter Lyrik und rhythmischen Attacken changierende Studie, die gleichsam unterschiedlich timbrierte Stimmen unterdrückter und entrechteter Frauen zum Klingen bringt. Das Stück basiert auf dem Text eines chilenischen Künstlerinnen-Kollektivs und entstand 2020 aus Anlass des fünfzigjährigen Jubiläums des Schweizer Frauenwahlrechts.
Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre es für eine Frau undenkbar gewesen, als „hauptberufliche“ Komponistin Anerkennung zu finden. Die Niederländerin Henriëtte Bosmans (1895-1952), deren wuchtige Cellosonate von 1919 hier eingespielt ist, wirkte vor allem als Pianistin. Zugleich war sie eine Vorkämpferin der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Höchst gegensätzlich verliefen die Viten der Schwestern Boulanger: Nadia kam als Kompositionslehrerin zu Ruhm und Ehre, komponierte jedoch nur wenig, darunter drei kontrastreiche Pièces pour violoncelle et piano. Ihre immens begabte Schwester Lili gewann 1913 als erste Frau den Prix de Rome. Nur wenige Jahre der Entfaltung waren ihr vergönnt, sie starb kaum 25-jährig 1918. Ihre Trois morceaux pour piano zeigen den Einfluss Debussys und zugleich die frappierende Eigenständigkeit ihrer Tonsprache. Ähnlich jung verstarb Vitezslava Kaprálová (1915-1940). Mit den Worten „Ich will es den Männern zeigen“ wird sie zitiert, und die energische Geste, mit der ihr Ritornell op. 25 beginnt, mutet an wie ein in Musik gegossener Ausdruck dieses Vorsatzes. Das spannende CD-Programm wird ergänzt durch vier Stücke aus dem Klavierzyklus Das Jahr von Fanny Mendelssohn-Hensel.
Seit 2015 bilden Anna Fortova und Kathrin Schmidlin ein Duo. Die in Tschechien geborene Cellistin und die Schweizer Pianistin haben in Basel studiert und wirken neben ihrer kammermusikalischen Tätigkeit auch erfolgreich als Pädagoginnen. Diesem Duo zuzuhören bereitet reine Freude! Nuancenreiches Cellospiel und transparente Pianistik ergänzen einander zu perfektem Ensembleklang.
Der schwerblütige Ton der Bosmans-Sonate, Kaprálovás schneidiger, Martinu-naher Neoklassizismus, Nadia Boulangers Brillanz, die Subtilität der Komposition Haenslers: Alles gelingt in Perfektion, alles ist getragen vom spürbaren Engagement der beiden Partnerinnen für zu Unrecht verdrängte Frauenstimmen. Ein Sonderlob hat sich Kathrin Schmidlin „verdient“, für die ebenso einfühlsam wie perlend vorgetragenen Solostücke von Lili Boulanger und Fanny Mendelssohn-Hensel.
Gerhard Anders