Hinrichsen, Hans-Joachim

Franz Schubert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: C.H. Beck, München 2011
erschienen in: das Orchester 04/2012 , Seite 60

Zu einem Schubertianer kann man gewiss nicht allein, aber doch auch durch Bücher werden. Mir ist es jedenfalls so ergangen, als mir in Studententagen Frieder Reininghaus’ Schubert und das Wirtshaus von 1979 in die Hände fiel. Dass ein Buch im Internet-Zeitalter noch eine solche Bedeutung erlangt, ist seltener geworden; Hans-Joachim Hinrichsens kleine Monografie für die Wissen-Reihe im Beck-Verlag könnte es vielleicht schaffen.
Zum Schubertianer wird man hier allerdings nicht, weil einem Schubert als Identifikationsfigur mit Schwarmpotenzial nahekommt. Hinrichsen skizziert vielmehr die wohltuend unromantische Biografie eines romantischen Künstlers, die nüchtern nach den „Produktionsbedingungen“ fragt, in die sich Schubert als einer der ersten freischaffenden Komponisten gestellt sah. Als ein entscheidender und keineswegs banaler Faktor erweist sich dabei der Lebensort Wien. Das spezifisch organisierte Musikleben dieser Stadt, ihre Geselligkeitskultur und ihr nach 1815 politisch zunehmend restauratives Klima haben Schuberts Werk wesentlich mitgeformt.
Und es ist die Werkgeschichte, die klar im Zentrum dieses Porträts steht. Vieles erschließt sich hier, so Hinrichsen, wenn man Schuberts Umgang mit den musikalischen Gattungen nachgeht: Was waren die Gründe, dass Schubert sich zu einem bestimmten Zeitpunkt einer bestimmten Gattung zuwandte, dass er sie wieder fallen ließ und später eventuell wieder aufnahm? Was waren jeweils Modelle, Reibungsflächen und Adressaten? Nur unter Berücksichtigung eben der Wiener Verhältnisse und der Gattungssituation wird zum Beispiel Schuberts glückloses und bis heute unterbelichtetes Schaffen für die Opernbühne verständlich. Aber auch im Œuvre ab 1824, also seit der Abwendung vom Musiktheater und der Ausrichtung auf die „große Sinfonie“, zeichnet sich unter diesem Fokus auf neue und erhellende Art eine produktive Stringenz ab, die Hinrichsen unter die Überschrift „Komponieren für die Öffentlichkeit“ stellt.
Worin Schuberts ganz eigene kompositionsgeschichtliche Leistung bestanden hat, wird bei alledem pointiert deutlich. Den Akzent legt Hinrichsen dabei auf die Instrumentalmusik, was Widerspruch erregen mag, doch angesichts der lange Zeit liedlastigen Rezeptionsgeschichte wohlbedacht erscheint. Insbesondere anhand der C-Dur-Sinfonie D 944 wird Schuberts „epische“, auf einer „neuartigen Formbildungsleistung der Harmonik“ basierende Konzeption der großen Instrumentalformen vorgestellt, die erst in den vergangenen Jahrzehnten herausgearbeitet und musikgeschichtlich neu bewertet worden ist. Wo immer man das Büchlein aufschlägt: souveräner lässt sich ein „Schubert für die Manteltasche“, in dem auch der aktuelle Forschungsstand schwerelos Platz gefunden hat, schwerlich präsentieren. Auch 200 Seiten mehr hätte man sich bei diesem Autor gerne gefallen lassen. Aber das kann ja noch kommen.
Thomas Gerlich