Franz Schubert
Symphonien Nr. 1–9
Berliner Philharmoniker, Ltg. Nikolaus Harnoncourt
Wenn es um die letzten Herztöne gehe, sei es, so Nikolaus Harnoncourt, weder Bach noch Mozart, sondern Schubert, der mir am nächsten steht. Die Schubert-Affinität des großen, ehedem radikalen Musikers ging auf Kindheitseindrücke zurück: Das Volksmusikidiom seiner steiermärkischen Heimat fand Harnoncourt später in Schuberts Musik wieder. Stärker noch als diese Prägung war für den jungen Musiker jene, die vom häuslichen Musizieren ausging. Hier lernte er Schubertsche Tänze und Kammermusik von Grund auf kennen.
Immer wieder hat sich der 2016 verstorbene Dirigent für Schuberts wenig beachtete Opern, seine Messen und Sinfonien eingesetzt. Der Sinfoniker Schubert hatte bis in die jüngste Vergangenheit keine Lobby: Seine frühen Sinfonien Schubert schrieb sie als 16- bis 21-Jähriger galten als wenig ausgereifte, ja: gescheiterte Versuche, es den Klassikern, insbesondere Beethoven gleichzutun. Der Ex-Orchestermusiker Harnoncourt erinnerte sich seiner frühen Jahre, als berühmte Dirigenten allenfalls die Unvollendete oder die große C‑Dur-Sinfonie auf ihre Programme setzten und selbst mit diesen Werken kaum persönliche Botschaften verbanden.
Anders Harnoncourt: Als Protagonist der historisch informierten Aufführungspraxis vertrat er eine Sichtweise, die nicht darauf gerichtet war, musikalische Kunstwerke als Vorstufen zu betrachten. Vielmehr geht der Blick stets von der Quelle aus. Schuberts Sinfonien waren für Harnoncourt Meisterwerke ihrer Zeit, über die 1813 entstandene 1. Sinfonie schrieb er, sie sei das Großartigste, was es gibt, weil die anderen ja noch gar nicht existieren.
Zwischen 2003 und 2006 haben die Berliner Philharmoniker unter Harnoncourts Leitung alle Schubert-Sinfonien in der Berliner Philharmonie produziert. Nirgends herrscht in diesen Aufnahmen jener aufgeraut-demonstrative Gestus, der so manche Harnoncourt-Einspielung früher Jahre zu einem anstrengenden Hörerlebnis machen kann. Hier spielt kein Pseudo-Originalklang-Orchester, vielmehr hören wir die Phiharmoniker at their best, in ihrer spezifischen Klanglichkeit und zugleich dank Harnoncourts Feinarbeit wundervoll differenziert, schlank, gekrönt von herrlichen Soli der Bläser oder einzelner Streichergruppen. Harnoncourts intensive Beschäftigung mit einem spezifischen Notationsproblem der Schubert-Zeit was ist ein Diminuendo, was ein Crescendo, was ein Akzent? führt zu überraschenden Detailansichten, doch auch hier sowie in puncto Tempo und Phrasierung werden wir nie vom interpretatorischen Holzhammer heimgesucht.
Vielleicht wäre Harnoncourt als Anwalt der frühen Sinfonien nicht ganz glücklich über folgendes Resümee? Seis drum: Die Aufnahmen der Sinfonien 1 bis 6 (sowie auch die der großen C‑Dur-Sinfonie) sind exzellent, die Einspielung der Unvollendeten indes ist von magischer Schönheit! Welch ungeheuren Schritt ins Neuland der gerade 25-jährige Komponist hier vollbracht hat, machen die Berliner Philharmoniker und Nikolaus Harnoncourt bewzingend hörbar.
Gerhard Anders