Christopher Hailey
Franz Schrecker 1878-1934
Eine kulturhistorische Biographie
Es war Hans Heinz Stuckenschmidt, der 1970 anmerkte: „Von allen schöpferischen Potenzen der Zeit vor 1933 weiß ich nur eine einzige, der man bisher die Chance einer Renaissance verwehrt hat: Franz Schreker.“ Da waren das „Phänomen Schreker“, die spektakulären Erfolge von Der ferne Klang, Die Gezeichneten und Der Schatzgräber zwischen 1912 und Mitte der 1920er Jahre, sowie der „Fall Schreker“, inszenierte Skandale und antisemitische Anfeindungen, längst eine „erledigte Sache“ geworden: Zur Absetzung von Aufführungen und der Verfemung als „entartete Kunst“ kamen nach dem Zweiten Weltkrieg das Verdrängen und Vergessen.
Als dann Weckrufe Wirkung zeigten, als in Kassel und Frankfurt erstmals wieder Werke auf die Bühne kamen, als die Musikforschung den Komponisten entdeckte und Dirigenten wie Michael Gielen und Peter Ruzicka die Modernität seiner Klänge und die „einzigartige Emphase und Kraft der Musik“ hervorhoben, erfolgten Mitte der 1970er Wende und Wiedergutmachung.
In Deutschland und in ganz Europa eroberten die Opern die Spielpläne, DDR-Erstaufführungen gab es an der Staatsoper Berlin und an den Bühnen der Stadt Gera, Plattenaufnahmen erschienen und die Literatur zu Schreker und seinem Schaffen schwoll an.
Damals hat Christopher Hailey das Thema zur Lebensaufgabe gemacht: Ein Vierteljahrhundert liegt das Erscheinen der englischen Originalausgabe seines vielbeachteten Standardwerks zurück, für welches er zwei Jahrzehnte intensivster Quellenforschung in den Musikzentren Europas und in den USA aufwendete. Die nun vorliegende deutsche Übersetzung war nicht nur überfällig, sie wurde zudem aktualisiert und beträchtlich erweitert: Ein Nachwort zur Schreker-Rezeption, ein Überblick über sein Wirken als Lehrer, Interpret und Filmproduzent, die Aufführungsstatistik sämtlicher Inszenierungen bis heute.
Doch ohne Begeisterung und eigenes Erleben (Hailey hat alle Aufführungen seit 1978 besucht und mit unzähligen Theaterleuten gesprochen) wären solch akribische Arbeit und andauerndes Engagement unmöglich. Hailey wertet die Wiederentdeckungen nicht nur als Glanzlichter, er zeigt auch die neuen Dimensionen und Perspektiven, die Schrekers Relevanz für das Wien des Fin de siècle und das Berlin der Weimarer Republik, die bedeutendsten Schmelztiegel der Musik des 20. Jahrhunderts, ausmachen. Der ferne Klang war ihm Programm, Klang und Eros (Paul Bekker) ein Markenzeichen; im Klang sah Adorno jenen „radikalen Zug, der die Zurechnung Schrekers zur Avantgarde rechtfertigt“.
Haileys brillantes, facettenreiches Zeit- und Persönlichkeitsbild würdigt den besonderen Wert seiner Kunst als sensibles und kreatives Reagieren auf ihre Umwelt.
Das hat ihr von Flammen bis zum Schmied von Gent, von der Ekkehard-Ouvertüre bis zum Memnon-Vorspiel Höhenflüge beschert und Missverständnisse eingebracht. Und das gibt ihr in Zeiten kultureller Vielfalt und Freiheit auch eine bleibende Chance…
Eberhard Kneipel