Wolf-Dieter Peter

Frankfurt am Main: Erweiterung des Opernrepertoires

Tschaikowskys „Die Zauberin“ an der Oper Frankfurt empfiehlt sich für eine Aufnahme in die Spielpläne

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 49

Im Jahr 1887 gab es schlechte Presse und Ablehnung seitens des Publikums: die Titelheldin Nastasja – eine reiche, selbstbewusste, freizügig lebende Witwe; ihr jugendlicher Liebhaber – ein Fürstensohn, dem sie ohne Scheu eindringlich ihre Liebe erklärt; er und seine Mutter werden am Ende vom Ehemann und Vater, einem fürstlichen Regional-Gouverneur, der selbst rasend in die „bezaubernde“ Nastasja verliebt ist, ermordet. Das war zu viel, vor allem, weil auch die Orthodoxie der Kirche in ihrer Inhumanität kritisch beleuchtet wurde. Tschaikowskys Lieblingsoper verschwand aus den Spielplänen. Dann erstellte Julius Kapp eine deutsche Fassung, die im Januar 1941 an der Berliner Staatsoper so erfolgreich war, dass Mannheim, Düsseldorf und Freiburg sofort folgten. In Wien, Frankfurt, Hamburg, Köln, Kassel und Breslau begannen die Proben – dann überfiel Hitler die Sowjetunion: Ende aller Aufführungen und Proben russischer Werke … 1887, 1941, 2022 …?
Erst im Herbst 2023 wird eine kritische Ausgabe des Werks erscheinen. Doch die preisgekrönte Frankfurter Oper hat sich mit Dirigent Valentin Uryupin und Regisseur Vasily Barkhatov zwei metierbewusste Kenner geholt, die dem doppeldeutigen Titel Die Zauberin wie auch Die Bezaubernde gerecht wurden. Mit surrealen Elementen forderten sie Fantasie und tiefenpsychologisches Verständnis heraus: Nastasja betreibt eine moderne Kunst-Galerie mit Bistro im schicken Beton-Ambiente; die in der Musik kurz hereinklingende Natur ist auf heute üblichen Riesen-Gemälden präsent, auch durch eine übergroße Wolf-Skulptur; auf Tschaikowskys leidvolle Homosexualität wird ebenfalls angespielt durch allerlei Gender-People, die sich bei Nastasja einfinden, feiern und in Wolfsmasken auch mal frech an-aus-züglich herumtanzen (Choreografie: Gal Fefferman) – dazu erst lässiges Mitspielen des Chors als Gäste, dann feiner Volkslied-Gesang in Fernwirkung (Einstudierung: Tilman Michaels).
Mit der herausragend großen Drehbühne Frankfurts konnte auch Bühnenbildner Christian Schmidt zaubern: Nur einen kurzen Zwischenvorhang, später einen offenen Drehmoment von Nastasjas Galerie entfernt liegt der protzig-öde Palast des fürstlichen Oligarchen. Dieser erlebt sich selbst am Ende machtlos – die Wolfsskulptur steht nun surreal im Salon, während er die Toten zum Weiterleben in der Brokat-Sitzgruppe arrangiert und sich final eine nicht funktionierende Pistole an den Kopf hält.
Alle Frankfurter Aufführungen waren ausverkauft – denn Asmik Grigorian als Nastasja erschafft, mal mit harter Artikulation, mal mit glutvollen Tönen der Liebe, eine fesselnde, moderne Frau mit titelgerechten Zügen bis hin zur E-Zigarette. Bezeichnend die Szene, in der sie im tödlich-tobenden Gefühlschaos zwischen zwei halb weggedrehten, alle Illusionen als „gebaut“ zeigenden Bühnenbild-Welten steht – ein unvergessliches Bild existenzieller Verlorenheit!
Iain MacNeil als Oligarchen-Fürst gestaltete mit seinem herrlich virilen Bariton ein überzeugendes Gegengewicht zu Grigorians mal leichtfertig spielerischem, mal glühend aufblühendem Sopran. Ensemble-Mezzo Claudia Mahnke fiel als Fürstin krankheitsbedingt aus; Regie-Assistentin Verena Rosna ersetzte sie mit ihrer blendenden Bühnenerscheinung spielerisch überzeugend, während die aus Moskau eingeflogene Elena Manistina mit fülligen, dann rollengerecht scharfen Tönen von der Seite her sang. Dazu die differenzierte Darstellung von Alexander Mikhailov als tumber, dann wiederum tenor-strahlend liebender Jung-Fürst Yuri vor einem rollendeckend agierenden Haus-Ensemble – zu Recht anhaltender Jubel für diese Tschaikowsky-Wiederentdeckung. Mit ihrer musikalischen Dramatik, die dank Dirigent Uryupin und dem Museumsorchester vielfältig aufleuchtet, gehört diese Oper ins Repertoire – kann sie doch ohne große Arien, dafür aber mit geradezu zeitgenössisch wirkenden, schnellen Wechseln von Volksmusik-Anklängen über Konversationston und dramatischem Ausbruch bis hin zu ariosem Aufleuchten fesseln.