Roland Dippel

Forschen und Finden

In Budapest wurde die Stiftung Haydneum gegründet

Rubrik: Zwischentöne
erschienen in: das Orchester 02/2022 , Seite 41

Auf die Frage, was sich durch die Errichtung der Stiftung Haydneum für ihn ändern werde, antwortete György Vashegyi: „Nichts.“ Dabei gehörte er als maßgebliche Persönlichkeit der Alte-Musik-Szene Ungarns zu den engagiertesten Drahtziehern des vom 3. bis 7. Oktober mit einer Konzertserie der Öffentlichkeit vorgestellten Forschungszentrums. Vashegyis häufigstes Wort in seinem Textbeitrag zur aufwändigen Imagebroschüre, die neben zwei CDs sechs Fachaufsätze mit englischer, deutscher und französischer Übersetzung enthält, ist „dankbar“. Das muss man ihm glauben. Erste Anstrengungen zur Gründung des Haydneums als Anlaufstelle für die Alte Musik Ungarns vom Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts begann er vor fast zwanzig Jahren. Mit europäischen Partnern und weltweiter Ausstrahlung sollen bislang unbekannte Autografe und Abschriften erschlossen werden. Ähnlich wie der Palazzetto Bru Zane für das französische Musiktheater des 19. Jahrhunderts, soll auch das Haydneum eine Netzwerkzentrale für Forschung, Edition und Aufführung werden.
Das Eröffnungsfestival des Ungarischen Zent­rums für Alte Musik bündelte in Budapest Konzerte im Karmeliterkloster, im Veranstaltungszentrum Müpa, in der Universitätskirche Budapest und der Liszt-Akademie. Das Haydneum unterhält enge Beziehungen zum Centre de Musique Baroque de Versailles und dessen künstlerischem Leiter Benoît Dratwicki. In enger und schon weit in die Zukunft projektierter Zusammenarbeit produziert György Vashegyi mit dem Orfeo Orchestra und dem Purcell Choir konzertante Aufführungen und Einspielungen französischer Opern des 18. Jahrhunderts von und aus dem Umfeld von Jean-Philippe Rameau.
Das Haydneum will mit wesentlicher Mitwirkung dieser und international renommierter Spezialensembles die Musiksammlungen der Fürstenfamilie Esterházy und andere musikalische Bestände aus Györ, Pannonhalma, Szombathely, Veszprém und Pécs erschließen. Zum Großteil werden diese in der Széchényi Nationalbibliothek Budapest archiviert und teilweise digitalisiert. Diese Bestände internationaler Herkunft beinhalten neben eigens komponierten Werken aller Genres zahlreiche Abschriften sak­raler Kompositionen, aber auch Einrichtungen und Fassungen Joseph Haydns für das Opernhaus Esterházy – etwa von Domenico Cimarosas Opera buffa L’impresario in angustie. Viele Komponisten und Musiker aus dem deutschsprachigen Raum oder ganz Europa wirkten in den weltlichen und geistlichen Musikzentren Ungarns. Die Sammlungen liefern bisher unerschlossenes und wichtiges Material für die Forschung und die historisch informierte Aufführungspraxis. Ab 2022 unterstützt der ungarische Staat die Stiftung Haydneum mit einer jährlichen Subvention von ca. vier Millionen Euro. Ein Teil dieser Summe soll für Wettbewerbe, Workshops und Symposien für Alte Musik verwendet werden. Ohne genaue Angaben zum Programm ist in Budapest ein Kirchenmusikfestival vom 3. bis 12. Juni 2022 angekündigt.
Die Eröffnungswoche im Oktober 2021 beinhaltete Konzerte der Capella Savaria, des Budapest Bach Consort und des Freiburger Barockorchesters. Das Orfeo Orchestra wird neben eigenen Programmlinien wie dem Zyklus französischer Barockopern weiterhin eine Säule für Haydneum-Projekte sein. Ein Alleinanspruch auf Repertoire-Nischen besteht in der Verbindung mit dem Haydneum für Vashegyi allerdings nicht. Das zeigten die Eröffnungskonzerte: Mit der Sopranistin Ágnes Kovács spielte das Spezialensemble Les Talens Lyriques unter Christophe Rousset Joseph Haydns Salve Regina E-Dur (1756), das sich mit der gleichen Sängerin und dem Orfeo Orchestra bereits auf den CD-Beigaben der Präsentation befindet. Ein geschickter Promotion-Kick: Das nicht besonders bekannte Stück hat vor allem in den beiden ersten Sätzen vergleichbare Hit-Qualitäten wie Mozarts Exsultate, jubilate.
Der weitaus wichtigere Akzent in diesem Konzert war die Wiederentdeckung des Oratoriums Job von Gregor Joseph Werner (1693-1766). Außer einer Aufnahme seines Musikalischen Instrumental-Calenders aus dem Jahr 2003 wurde Joseph Haydns Amtsvorgänger in Esterházy bisher allzu gründlich vergessen. Werner komponierte z. B. mindestens 17 Karfreitagsoratorien – Vashegyi brachte selbst im Vorjahr Der gute Hirt auf CD heraus. An diesem Werk zeigt sich die Relevanz des Haydneums. Als in deutscher Sprache komponierte Werke sind Werners Oratorien ein Sonderfall neben den in italienischer Sprache üblichen Wiener Oratorien, aus denen Johann Joseph Fux’ Oratorium germanicum de Passione (1731) als einzige wesentliche Ausnahme eines deutschsprachigen Oratoriums herausragt.
Werners Oratorien gelangten Mitte des
18. Jahr­hunderts in der Schlosskirche von Esterházy zur halbszenischen Aufführung. Das Eröffnungskonzert mit dem Orfeo Orchestra und dem Purcell Choir brachte Initialanlässe: Neben den beiden Haydns stellte man mit dem Miserere h-Moll von Johann Georg Albrechtsberger (1737-
1806) einen weiteren in Vergessenheit geratenen Komponisten vor. Eindrucksvoller Höhepunkt wurde die 1803 für den Wiener Hof komponierte Missa Sancti Francisci Seraphici von Michael Haydn, ein optimistisch auftrumpfendes und durch abrupte Wechsel von massiven Tutti-Wirkungen in aparte Instrumentalsoli überraschendes Werk.
In seinem Editorial zählt Benoît Dratwicki Komponisten auf, die durch das Haydneum in den kommenden Jahren ins Bewusstsein des internationalen Musikpublikums zurückgeholt werden sollen. Zu ihnen gehören Benedek Istvánffy, Frédéric Kalkbrenner, Johann Sigismund Kusser, Georg Christoph Strattner, Anton Zimmermann und Wenzel Franz Zivilhofer. Zudem soll die Auseinandersetzung mit Komponisten wie Carl Ditters von Dittersdorf und Johann Nepomuk Hummel durch die vertiefende Erschließung ihres musikalischen Umfelds neue Impulse erfahren. Deshalb konnte die Eröffnungswoche nur ein Signal sein, dem die eigentlichen Sensationen erst folgen werden. Unter diesem Gesichtspunkt ändert sich für Vashegyi tatsächlich nichts. Das Ungarische Zentrum für Alte Musik liefert jetzt allerdings den institutionellen Rahmen für seine Entdeckungen.

> www.haydneum.com

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