Formen in der Luft
Musik des 20. Jahrhunderts für Violine und Orgel
Die Orgel hat mit Luft zu tun ohne Windlade wäre das Instrument nicht zu spielen. Aber die Violine? Braucht sie Luft? Im strengen Sinn natürlich nicht, aber wenn man die Technik auf den Saiten und mit dem Bogen außen vor lässt und sich die möglichen virtuosen Klänge anhört, dann steigt kaum ein zweites Instrument der großen Orchesterfamilie in so luftige Höhen wie die Geige. Musik für Orgel und Violine kommt so selten nicht vor. Beim Bottroper Festival Orgel Plus begegnen sich die beiden Partner regelmäßig. Der fulminant-orchestrale Klang des großen Instruments im Dialog mit der kammermusikalischen Intimität wartet mit Überraschungen und der Öffnung in neue geistige Dimensionen auf.
Das wird mit dieser CD einmal mehr bestätigt. Das Duo Szathmáry gewinnt den Formen in der Luft Zeitgenössisches ab. In der Tat beschäftigen sich Komponisten der Gegenwart gern und zielbewusst mit der technischen Apparatur, mit den Klangspektren fern des traditionell-konservativen Kreises und entlocken so einem festgefügten Instrumentenpanorama wie einer Kirchenorgel spektakuläre Herausforderungen. Und um diese musica nova geht es auf dieser CD, bei der sich nicht jedes Werk beim ersten Hören auf Anhieb erschließt. Hier muss mitgearbeitet werden, will man nicht das Hören als inaktive Geräuschkulisse begreifen. Nein, bei Reiko Morohashi (Aus dem fernen Himmelsrande), Zsigmond Szathmáry (Cadenza con Ostinati), Hans Ulrich Lehmann (Sonate da Chiesa), Arthur Vincent Lourié (Formen in der Luft), György Ligeti (Etude Nr. 1), Kim Bowman (The Violin) und Istvan Lang (Movimento) wird höchste Konzentration verlangt, außerdem die Bereitschaft, sich auf Fremdes, Fernes, Radikales und Kühles einzulassen. Wer dieses offene, neugierige Verhältnis an den Tag legt, der wird belohnt denn alle Kompositionen warten mit ruppiger Avantgarde oder provozierender Klangballung auf.
Formen in der Luft Arthur Vincent Lourié gibt mit seinem Stück den Titel vor. Die Leichtigkeit der Luft prägt diese drei Kompositionen (eigentlich für Klavier geschrieben), die Zsigmond Szathmáry für Orgel und Violine bearbeitet hat. Eines der kraftvoll-brisanten Werke ist Hans Ulrich Lehmanns Kirchensonate (1971), eine Mixtur aus Tonsuche und Musikverstummen, aus Zitatverfremdung (von Bach bis Messiaen) und Collagen-Szenen: ein Kraftakt für beide Instrumente. Einleitend hört man die Kadenz mit Ostinato von Zsigmond Szathmáry für Violine/Orgel von 1994: wie aus einem musikalischen Gedanken, einer Urzelle gewissermaßen, ein Parallelogramm mit ostinatem Einsatz wird. Der Komponist verschiebt Phasen, moduliert das Thema, ungarische Folklore-Bruchstücke ertönen spukhaft, Rhythmik überrascht serienweise.
Formen in der Luft: Diese Einspielung mit der stupend auftretenden Geigerin sie ist Konzertmeisterin bei der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und dem souverän agierenden Organisten er zählt zu den führenden Orgelmusikern im 20. Jahrhundert bleibt gerade in ihrem Duktus irdisch und sinnenzugewandt. Aber die Höhenluft bekommt den Solisten und den Komponisten. Man bleibt trotz herausfordernder Werke ge- und entspannt.
Jörg Loskill