Fujikura, Dai

Flute Concerto

für Orchester

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Ricordi, Berlin 2015
erschienen in: das Orchester 03/2016 , Seite 74

Etwa zwei Stunden von seiner Heimatstadt Osaka entfernt erlebte Dai Fujikuras Flötenkonzert am 11. Dezember 2015 seine Premiere. Denn seit April 2014 ist Dai Fujikura Composer in Residence beim Philharmonieorchester Nagoya. Mit der Solistin der Uraufführung verbindet den Komponisten eine langjährige Zusammenarbeit: Claire Chace, Gründerin des International Contemporary Ensemble (ICE), zählt zu den renommiertesten Flötistinnen jüngerer Generation. Dass Fujikuras Konzert dennoch keine reine Projektionsfläche zur solistischen Selbstinszenierung ist, unterstreicht er in seiner Partitur gleich zu Beginn: „Interact with orchestra“, lautet seine erste Anweisung. Orchester und Soloflöte stehen in einem unmittelbaren Wechselverhältnis zueinander – eine Interaktion zwischen Dialog und Imitation. Gemeinsam unternehmen sie eine Reise, auf der die Soloflöte zur Gestaltwandlerin wird.
Ein szenenhafter Klangteppich aus Melodiefragmenten bildet die Ausgangsbasis für Fujikura, um zum Geschichtenerzähler zu werden. Seine Protagonistin ist die Soloflöte, die wie ein junger Vogel zunächst etwas zögerlich, dann immer ungestümer zu tanzen beginnt, gefolgt von kurzen Staccati und Pizzicati des Orchesters. Dieser leichte, expressionistisch anmutende Tanz erfährt einen jähen Bruch durch eine beliebte zeitgenössische Flötentechnik: Singen und Spielen zugleich. Sirenenhaft schreiende Glissandi der Soloflöte, gefolgt von schlagenden Orchesterakkorden erzeugen einen Moment allgemeinen Entsetzens. Wenn dann ein bizarrer, verletzlicher Flötenton den geisterhaften Nachhall durchbricht, ist nichts wie vorher: Die Flöte, auf Piccologröße geschrumpft, büßt durch die Flatterzunge deutlich an Eleganz ein. Auch das Orchester steht nur wackelig auf den Füßen: Zittrige Tremoli, zarte Flageoletts und schwankende Glissandi bieten der Flöte keinen Halt, um die verlorene Leichtfüßigkeit zurückzugewinnen. Ihre unnachgiebigen Versuche verstummen schließlich in einem vibrierenden Orchesterklang, in dem sie ihre zweite Transformation vollzieht. In fast fünffacher Größe meldet sie sich erneut zu Wort. „Make sounds like distorted electric guitar“, lautet Dai Fujikuras Anweisung vor einer aufbegehrenden Solocadenza der Kontrabassflöte. Mehrfache Orchesterinterventionen und ein Paukenschlag verkünden den Erfolg der Kämpferin. Die Flatterzunge, bisher Spiegelbild ihres Schicksals, scheint sie von da an nicht mehr zu stören. Vielmehr verleiht ihr dieses zeitgenössische Gewand eine ganz eigene Ästhetik. Ob das Dai Fujikuras Botschaft ist, steht als offene Frage im Raum, wenn Orchester und Soloflöte als schimmernd pulsierende Einheit verklingen.
Flatterzunge, Klangfarbentriller und Flageoletts dürften für die meisten Orchestermusiker heute kaum noch eine Herausforderung sein. In Fujikuras Flötenkonzert werden zeitgenössische Spieltechniken somit nicht zum spielerischen Hindernis, sondern verleihen ihm vielmehr einen zusätzlichen musikalischen Anreiz.
Martina Brandorff