Holliger, Heinz

Flüsterfuge und Zirkelkanon

für 4 Violoncelli aus Concerto für Orchester, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: das Orchester 11/2009 , Seite 68

Langjährige Zusammenarbeit und persönliche Freundschaft verbindet den Schweizer Ausnahmemusiker Heinz Holliger mit dem Chamber Orchestra of Europe (COE). Dieses 1981 gegründete hochkarätige Ensemble wurde zum Prototyp für viele nachfolgende Formationen, in denen eine spartenübergreifende Kompetenz angestrebt wird, die keine Grenzen zieht zwischen den traditionell getrennten Repertoirebereichen eines Sinfonieorchesters, eines Kammerorchesters sowie der Spezialensembles für historische Aufführungspraxis und Neue Musik. Die Musiker des COE sind echte Allrounder, und so kommt die wechselseitige Affinität mit dem Oboisten, Komponisten und Dirigenten Heinz Holliger nicht von ungefähr.
Entsprechend üppig fiel Holligers Geschenk zum 20. Geburtstag des COE aus: eine über 40 Einzelstücke umfassende Mega-Komposition, bestehend aus Soli, Duos, Trios, Ensemblepiècen aller Art und einigen wenigen Stücken, in denen das Orchestertutti zu hören ist. “COncErto? Certo! COn soli pEr tutti (…perduti?…)” – so der vollständige Titel inklusive Buchstaben-„Symbolik“ – ist ein Kompendium musikalischen Humors und kompositorischer Kabinettstückchen. Als Auskoppelung aus diesem ungewöhnlichen Werk legt Schott hier zwei Stücke in einer Version für 4 Celli oder 4 Fagotte vor, die in angemessen souveräner Darbietung Spielern wie Hörern großen Spaß bereiten können. Strukturell durchaus vergleichbar – beide sind Studien im Stile antico, also Anwendungen alter Kanontechniken –, unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer musikalischen Charakteristik beträchtlich: In gemessenem Tempo und ppp-Dynamik durchmisst das Thema des Zirkelkanons – von jeder Stimme in der Prim repetiert – ausgehend vom eingestrichenen c schleichend den Tonraum einer großen Septim und arbeitet sich anschließend Halbton für Halbton eine Oktave abwärts. Mit dem Erreichen des kleinen c in der 1. Stimme beginnt der rückläufige Prozess: Das Thema erscheint in der Umkehrung und klettert Durchgang für Durchgang wieder hoch bis zum c’. Ein Hör- und Lesevergnügen!
Nicht weniger kunstfertig die Flüsterfuge: Die Tempobezeichnung lautet prestissimo sussurrando, und in der Tat mutet diese surrende, rasende Fuge wie ein musikalisierter Insektenschwarm an. Das hohe Tempo fordert den Spielern einiges an Reaktionsschnelligkeit, Finger- bzw. Lippenfertigkeit ab. Dass der Tonumfang des Stücks das c” nicht überschreitet, stellt für Cellisten angesichts der sonstigen musikalischen Schwierigkeiten keine wirkliche Erleichterung dar und bedeutet für Fagottisten schlicht: Ausführbarkeit gewährleistet! Anders gesagt: Für professionelle Spieler des einen wie des anderen Instruments ist Holligers Flüsterfuge eine echte und zugleich vergnügliche Herausforderung.
Und dann wäre da noch das Fugenthema: A-B-B-A-C. Verwenden wir die italienische Bezeichnung für den Ton C, wird der Gag sogleich offenbar: A-B-B-A-Do… eine Hommage an Claudio Abbado, einen der wichtigsten dirigentischen Mentoren des COE!
Gerhard Anders