Volker Hagedorn

Flammen

Eine europäische Musikerzählung 1900-1918

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Rowohlt
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 64

Nervös wartet Ethel Smyth im Salon des Londoner Musikmäzens Edgar Speyer. Bei einer Soirée im Jahr 1908 werden vier ihrer Lieder aufgeführt, mit der Hausherrin als Geigerin. Kein Geringerer als Claude Debussy ist als Ehrengast eingeladen. Smyths Melodien, lobt der illustre Kollege, seien „vollkommen bemerkenswert“. Nach der kurzen Begegnung trennen sich ihre Wege, um sich dann immer wieder neu zu kreuzen.
In seinem Buch Flammen entwirft der Musikpublizist Volker Hagedorn ein facettenreiches musik- und zeithistorisches Panorama von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Debussy, einer der prägenden Wegbereiter der musikalischen Moderne, und die Rebellin Smyth, die allen Widrigkeiten zum Trotz eine Laufbahn als Komponistin verfolgt, sind die Protagonisten der „Musikerzählung“, die sich auf rund 400 Seiten kaleidoskopartig entfaltet.
Hagedorn hat eine beeindruckende Fülle an Originalquellen durchforstet und bringt die turbulente Umbruchszeit auf lebendige Weise nah. Wie durch ein Vergrößerungsglas beobachtet man Persönlichkeiten aus Kultur, Gesellschaft und Politik, die durch unzählige Fäden miteinander verbunden sind. Die Offizierstochter Smyth, die gegen den anfänglichen Widerstand ihrer Familie Komposition in Leipzig studiert hat, kann in Wien Bruno Walter von ihrer Oper Strandrecht überzeugen und wird zu Gustav Mahler vorgelassen.
Hagedorn streut allerlei Anekdoten ein. So besitzt die Mutter von Alban Berg einen Albino-Dackel namens Mahler, der seinen Namensgeber um Jahre überleben wird. In England kämpft Smyth unterdessen auf Seiten der Suffragetten für das Frauenwahlrecht und kommt dafür sogar ins Gefängnis. Ihr Lied The March of Women wird zur Hymne der Protestbewegung um Emmeline Pankhurst. Im Haus des Pariser Musikkritikers Louis Laloy proben derweil Debussy und Igor Strawinsky den noch unvollendeten Sacre du Printemps, der 1913 bei der Uraufführung mit den Ballets Russes einen Skandal auslösen wird.
Als Debussy auf dem Klavier wilde Akkorde drischt, stellt sich seine Tochter Chouchou einen Tanzbären im Bois de Boulogne vor. Während die Balkankriege toben, begeistert Sergej Djagilews Tanztruppe in der Berliner Krolloper mit Strawinskys Feuervogel. Londoner Musiker spielen unter dem Dirigenten Thomas Beecham, der die Suffragetten im Gefängnis besucht hat. Und auch der Erste Weltkrieg vermag nicht zu verhindern, dass in Berlin Franzosen, Russen und Engländer in friedlicher Eintracht vor Deutschen auftreten – auch er kann die Brücken der Kultur nicht zerstören. In einer Kaserne im elsässischen Mülhausen, damals Teil des Deutschen Kaiserreichs, spielt der junge Paul Hindemith im Frühjahr 1918 ein Stück von Debussy, als aus Paris die Nachricht vom Tod des Komponisten eintrifft.
„Über jeden Tag in diesen europäischen Jahren ließe sich ein Roman verfassen“, merkt Hagedorn im Nachwort an. Auch beim Lesen kommt man ständig in Versuchung, Fäden in alle Richtungen weiterzuspinnen.
Corina Kolbe