Jean Sibelius
Finlandia
Tondichtung für Orchester op. 26, hg. von Timo Virtanen, Partitur
Zur ihren größten Hits haben große Komponisten bisweilen ein gespaltenes Verhältnis. Dass ein „paar Takte“ Musik den Blick der Öffentlichkeit für das übrige Œuvre verstellen, kann für den Schöpfer ein Ärgernis sein. Andererseits ist da diese Sehnsucht, von der Muse stets so heftig geküsst zu werden, dass idealerweise immer ein Hit, oder sagen wir: inspirierteste Musik entsteht. Und gewiss lebt es sich in Zeiten institutionalisierter Autorenrechte komfortabel, wenn eine Komposition aus eigener Feder zum Selbstläufer und zur Tantiemenquelle wird.
Auch Jean Sibelius scheint diesen Zweispalt empfunden zu haben. 1911 notiert er: „Befremdlich, dass alle jene Kritiker, die meine Musik bewundern, die Aufführung von Finlandia […] geringschätzen. Alle anderen aber bejubeln sie, die im Vergleich zu meinen anderen Werken eine unbedeutende Komposition ist.“ An anderer Stelle sinniert er über die Gründe für den Erfolg seiner beliebten Komposition: „Es ist tatsächlich nur auf Themen gebaut, die mir zugeflossen sind. Reine Eingebung! Wenn ich diesen Stil nur generell erreichen könnte…“
Über Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieser „Zweiten Nationalhymne“ eines von langer Fremdherrschaft geprägten, nach Unabhängigkeit dürstenden Finnlands informiert detailreich das Vorwort zur neuerschienenen Partitur. Sibelius-Experte Timo Virtanen lehrt an der Universität der Künste in Helsinki und ist maßgeblich beteiligt an der Urtext-Edition der Werke des großen Finnen. Virtanens Essay lässt uns teilhaben am patriotischen Impuls, der finnische Künstler um 1900 beseelte.
Finlandia ist politische Musik: Ursprünglich konzipiert als Finalsatz einer „Musik zu den Pressefeiern“ – Ende 1899 fand diese Manifestation für Presse- und Redefreiheit im russisch besetzten Finnland statt –, verselbstständigte sich das Werk zum Symbol eines Aufbruchs. „Eine bewegendere Melodie lässt sich kaum denken“, notiert der Komponist Karl Flodin (1858–1929) über den hymnischen Ausklang, „es ist ein ganz neues Volkslied, oder korrekter: das Lied unseres demokratischen finnischen Volkes.“
Anlässlich der Pariser Weltausstellung 1900 gastierte das Philharmonische Orchester Helsinki mit Kompositionen ausschließlich finnischer Provenienz, und hier feierte Finlandia Triumphe. Interessanterweise kritisierte der ansonsten enthusiastische Karl Flodin einen Aspekt, der auch uns bei neuerlichem Hören bzw. Lesen der Partitur auffällt: Das Stück ist „zu kurz“! Aus dem mythischen Raunen des Beginns und der anschließenden, von Trompetensignalen getriebenen Jagdszene geht unvermittelt ein optimistisch anmutender Marsch hervor, der den Boden bereitet für die abschließende Hymne.
Verglichen mit der alten Breitkopf-Ausgabe scheinen die Textunterschiede marginal zu sein. Dies schmälert keineswegs das verdienstvolle Unternehmen dieser Sibelius-Urtextausgabe, die neben der Partitur auch einen Kritischen Bericht und Orchestermaterial zur Verfügung stellt. Wer Sibelius wörtlich nehmen will, sollte Breitkopf wählen.
Gerhard Anders