Alfred Schnittke

Film Music Vol. 5

Tagessterne/Der Liebling des Publikums/Vater Sergius. Rundfunkchor Berlin, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Ltg. Frank Strobel

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Capriccio
erschienen in: das Orchester 04/2022 , Seite 77

Seinen Lebensunterhalt verdiente Alfred Schnittke (1934-1998) damit, dass er die Musik zu etwa 70 sowjetischen Filmen komponierte. 1996 autorisierte Schnittke den damals 30 Jahre jungen Dirigenten Frank Strobel, seine Filmmusik zu Suiten für den Konzertsaal zu arrangieren. Diese neue CD ist nun schon die fünfte Folge dieser Reihe, eingespielt kurz vor Beginn der Pandemie. Sie enthält drei weniger bekannte, aber gleichfalls höchst hörenswerte Filmmusiken.
Tagessterne (1966) ist ein Filmdrama von Igor Talankin über die Dichterin Olga Bergholz, die im Zweiten Weltkrieg bei der 900 Tage dauernden Belagerung von Leningrad den dort Eingeschlossenen – darunter auch ihr zweiter Ehemann, der dort verhungerte – mit ihren Gedichten über das Radio Mut machte. Hier muss die Filmmusik weniger „berichten“ als vielmehr Mitgefühl erzeugen.
Schnittke wählte die musikalische Metapher der Drehorgel – Sinnbild für den einsamen Spielmann oder die einsame Kulturbotschafterin nicht erst seit Franz Schuberts Liederzyklus Die Winterreise. Besonders großartig wirkt der dritte der sechs Sätze, „Drehorgel II – Die Glocke – Die Schützen“, in dem auf einen charakteristischen sanften Walzer die klanglichen Schrecken des Kriegs folgen, im vierten Satz wiederum abgelöst von einem „Foxtrott“, dessen Motivik dann die abschließende „Drehorgel III“ dominiert.
Es folgen sieben kurze und überwiegend heitere Sätze aus dem Spielfilm Der Liebling des Publikums (1985) von Alexander Sguridi und Nana Kldiaschwili nach der Erzählung für Kinder Der weiße Pudel von Alexander Kuprin, darunter an dritter Stelle ein „Gladiatoren-Galopp“. Den Höhepunkt bilden aber die sechs Sätze aus dem Spielfilm Vater Sergius (1978) nach der letzten und persönlichsten Erzählung von Leo Tolstoi über einen Gottsucher. Der musikaffine Regisseur Talankin bat Schnittke, einen von Tolstoi selbst komponierten Walzer als Leitmotiv zu verwenden. Durch diese motivische Geschlossenheit nähert sich die Suite einer Sinfonie an, auch durch die Abwesenheit von Verfremdungen und Zirkusmusik.
Schnittkes Filmmusik mit ihren drastischen Kontrasten wirkt insgesamt tonaler und gefälliger als seine freien Werke, aber ebenso polystilistisch und vor allem ebenso tiefgründig. Die Instrumentation spaltet das Orchester oft in delikate Kammermusik-Gruppen auf, besonders treffend wirken Klangfarben wie Vibrafon, Cembalo und Celesta.
Das hellwache Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der allwissenden Leitung von Frank Strobel macht daraus ein erstklassiges Orchesterfest und die Damen des Rundfunkchors Berlin, einstudiert von Gijs Leenaars, gehen im fünfminütigen „Epilog“ aus Vater Sergius noch einen Schritt weiter und erreichen eine unglaubliche spirituelle Tiefe.
Ingo Hoddick