Peter Sühring

Ferenc Fricsay

Der Dirigent als Musiker

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: edition text + kritik
erschienen in: das Orchester 04/2024 , Seite 66

Wie kein Zweiter prägte der ungarisch-österreichische Dirigent Ferenc Fricsay (1914–1963) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Musikwelt im zerstörten Europa. Ein unbezwinglich erscheinender Lebenswille und die glühende Liebe zu seinem Musikerberuf waren seine Motivation zu den unzähligen Projekten, die er in seinem viel zu kurzen Leben verwirklicht hat. Anlässlich von Fricsays 60. Todestag ermöglicht der renommierte Musikhistoriker und Publizist Peter Sühring in einer eindrucksvollen Monografie eine neue Sicht auf das Leben und Wirken dieses großartigen Menschen und Musikers.
Anders als bei den meisten Dirigentendarstellungen schafft Sühring keine neuen Mythen und ergeht sich nicht in distanzlosen, beweihräuchernden Superlativen, sondern dokumentiert sehr detailliert und präzise. Zugrunde liegt dem Buch eine umfangreiche Recherche im Nachlass des Dirigenten und in den Archiven verschiedener Rundfunkanstalten. Und so gelingt eine vollständige Darstellung der vielfältigen unterschiedlichen Stationen des Dirigenten, beginnend mit der Orchesterarbeit in der ungarischen Provinz als Militär- und Opernkapellmeister in Szeged über den Durchbruch bei den Salzburger Festspielen bis hin zu seinem Wirken in den großen europäischen Metropolen.
Eine besondere Affinität hatte Fricsay zu Berlin. Hier unterstützte er die Gründung des RIAS-Orchesters (heute: Deutsches Symphonie-Orchester Berlin). Im amerikanischen Sektor der geteilten Stadt hatten sich Heimkehrende mit Aushilfen aus der Städtischen Oper, von den Berliner Philharmonikern sowie Mitgliedern der Staatskapelle zu einem Sinfonieorchester formiert. Ferenc Fricsays in der Monografie sehr gut dargestellte Probenarbeit konnte generell die Orchester, mit denen er gearbeitet hat, innerhalb von kürzester Zeit qualitativ auf höchstes Niveau bringen. Als Chefdirigent führte Ferenc Fricsay ab 1948 bis zu seinem Tod 1963 das heutige Deutsche Symphonie-Orchester Berlin in die europäische Spitzenklasse. Ein weiterer Höhepunkt in Fricsays Leben war die Eröffnung der Deutschen Oper Berlin im September 1961, wenige Tage nach dem Bau der Berliner Mauer. Schon von seiner schweren Erkrankung stark gezeichnet dirigierte er Don Giovanni ohne Dirigentenstab so schwerelos, als sei diese Musik aus dem Jenseits. Nur in Salzburg trägt eine Straße seinen Namen, nicht so in Berlin. Dort ist die Orchesterakademie des Deutschen Symphonie-Orchesters nach ihm benannt. Und der Orchesterprobensaal, der mittlerweile im Chaos der rbb-Umstrukturierung aus dem Betrieb genommen wurde. Gut, dass Ferenc Fricsay mit dieser sehr lesenswerten Monografie wenigstens ein kleines Denkmal gesetzt wurde.
Holger Simon