Wehner, Ralf
Felix Mendelssohn Bartholdy
Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke, Studienausgabe
Es soll Musiker geben, die eher ein Telefonbuch als ein Werkverzeichnis lesen würden. Was eine trockene Lektüre zu werden droht, erweist sich freilich bei genauerem Hinsehen zuweilen als sprudelnde Fundgrube. So auch hier. Die acht Hefte mit Liedern ohne Worte von Felix Mendelssohn Bartholdy sind natürlich jedem Pianisten ein Begriff. Wer aber hat je von einer Komposition mit dem Titel Wie die Zeit läuft! gehört? Auch da handelt es sich um ein Klavierstück Mendelssohns; es entstand im April 1847, ein halbes Jahr vor seinem frühen Tod (was den Titel bemerkenswert macht), wurde jedoch erst 2002 publiziert. Wie die Zeit läuft! ist eine von zahllosen Entdeckungen, die man in dem von Ralf Wehner erarbeiteten Mendelssohn-Werkverzeichnis (MWV) machen kann. Für Mendelssohn liegt damit das erste umfassende Werkverzeichnis vor, das wissenschaftlichen Standards genügt. Das Warten hat sich gelohnt. Von den Recherchen für die wiederbelebte Gesamtausgabe (Leipziger Ausgabe) profitierend, ist mit dem MWV ein Referenzwerk für Wissenschaft und Praxis entstanden, das das gegenwärtig hohe Niveau der philologischen Mendelssohn-Forschung eindrucksvoll dokumentiert.
Zwei Grundsatzentscheidungen prägen das Profil des MWV. Zum einen sind die einzelnen Stücke nicht strikt chronologisch, sondern zunächst systematisch sortiert, nämlich nach Werkgruppen wie z.B. Werke für Klavier zu zwei Händen. Innerhalb einer Werkgruppe sind die Stücke dann chronologisch angeordnet und tragen eine Ordnungsnummer; das besagte späte Klavierstück etwa ist unter U 196 verzeichnet. Zum anderen unternimmt das MWV den Versuch, vom abendfüllenden Paulus bis zur Trompetenfanfare aus wenigen Tönen alle derzeit bekannten Aufzeichnungen zu erfassen, die im weitesten Sinn als Kompositionen Mendelssohns gelten können. So kommt es, dass nicht nur zahlreiche und mitunter sehr kurze Fragmente, sondern auch Tonsatz-Übungen und musikalische Grußformeln aus Briefen hier Eingang gefunden haben. Ob solche Notate in einem Werkverzeichnis wirklich am rechten Ort sind, wäre zu diskutieren. Fraglos hat aber der umfassende Verzeichnungsansatz (der auch Bearbeitungen und Abschriften fremder Werke einschließt) zum Resultat, dass sich im MWV nun näherungsweise die gesamte notenschriftliche Produktion eines Komponistenlebens in einer faszinierenden Zusammenschau zeigt.
Die sich so ergebende große Zahl von 778 Katalog-Nummern dürfte ein Grund dafür sein, dass die einzelnen Werkeinträge vergleichsweise eher knapp ausfallen. Standardmäßig umfassen sie Incipits, Angaben zu Besetzung, Entstehungszeit und eventuell Textdichter oder Widmungsträger sowie eine Auflistung der wichtigen handschriftlichen und gedruckten Quellen. Sekundärliteratur wird nur für die gesamte Werkgruppe und sehr ausgewählt genannt. Mag das lässlich sein, so ist das Fehlen von Angaben zum Provenienz-Gang der Handschriften bedauerlich. Denn in einem ambitionierten Werkverzeichnis des 21. Jahrhunderts sollte man der Geschichte der Werkquellen, ihrer Besitzer und Standorte den nötigen Platz einräumen, zumal wenn in ihr, wie im Fall Mendelssohns, auch die Geschichte von Vertreibung und Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland sichtbar wird.
Thomas Gerlich