Maren Bagge

Favourite Songs

Populäre englische Musikkultur im langen 19. Jahrhundert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms, Hildesheim
erschienen in: das Orchester 04/2023 , Seite 62

Man fragt sich zuerst, wie Maren Bagge den Mut aufbrachte, mehr als 700 Seiten einem Thema zu widmen, das bislang in der Musikwissenschaft nicht sonderlich ernst genommen wurde. Die Autorin hat das umfangreiche Gebiet in vier Bereiche eingeteilt, die verschiedene Praktiken abdecken, die die Favourite Songs zu einem wichtigen Bestandteil der populären englischen Musikkultur machten (publizieren, vermarkten, widmen, kaufen, leihen, sammeln, aufführen u. v. m.). Man erfährt zuerst von den „Pub­likations- und Vermarktungsstrategien“, es folgen „Widmungen als Spiegel von Netzwerken“. Nach „Distribution, Zirkulation und Konsum populärer Songs“ werden „Songs und Ballads auf der Konzertbühne“ untersucht. Es ist eine anspruchsvolle Annäherung von verschiedenen Seiten, zumal sich das öffentliche Konzertleben in Großbritannien bereits im 18. und dann im 19. Jahrhundert deutlich von dem auf dem Festland unterschied.
Die Motivation, sich mit solch einem Thema zu befassen, hat mit der Sammlung von Drucken populärer englischer Songs und Ballads von Frauen zu tun, die im Forschungszentrum Musik und Gender an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover lagert. Unter Einbeziehung von weiterem vielfältigem Quellenmaterial aus anderen Beständen konnten unter anderem Widmungen und deren Anlass verglichen, Biografien erstellt und weitere Verortungen vorgenommen werden. Es zeigte sich, dass professionelle Musikerinnen ebenso Lieder komponierten wie Laien, die sich in dieser Materie emporarbeiteten. Dass Lieder speziell für Frauen geschrieben wurden, lag daran, dass die geschlechtsspezifische Trennung der Musikausübung einer damaligen Vorstellung entsprach.
Dadurch, dass die vier oben erwähnten Kapitel, die Bagge ausarbeitet, sich überschneiden, entstehen faszinierende Erzählstränge. Sie analysiert die einzelnen Handlungsfelder jeweils aus verschiedenen Perspektiven und verwendet dabei unterschiedliche Methoden. Der Abschnitt über Widmungen wird mit Hilfe der Methoden der Netzwerkforschung konstruiert, und das Beispiel der Komponistin Alicia Adélaïde Needham führt detailliert in das Sujet ein.
Dass dieses Genre „von der musikwissenschaftlichen Forschung marginalisiert wurde“, ist laut Bagge unter anderem auf „komplexe Verschränkungen innerhalb eines im 19. Jahrhundert wirkmächtigen geschlechtsspezifischen Dichotomiefeldes“ zurückzuführen, in dem das Lied weiblich konnotiert ist und die klassische „Hochkultur“ traditionell häufig mit Männlichkeit assoziiert wurde. Zahlreiche Tabellen, Notenbeispiele und Abschriften belegen die Genauigkeit, mit der Bagge das reichhaltige Archivmaterial auswertet und zu einem Abschluss bringt.

Eva Rieger