Charles Gounod

Faust

Les Talens Lyriques, Flemish Radio Choir, Ltg. Christophe Rousset

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Palazzetto Bru Zane
erschienen in: das Orchester 01/2020 , Seite 72

Zuerst stutzt man. Das Label Palazzetto Bru Zane ist bekannt für seine Ausgrabungen völlig vergessener französischer Opern und man hat ihm man­che Trouvaille zu verdanken. Warum nun also eine der meist gespielten französischen Opern überhaupt? Das Rätsel löst sich sehr schnell, denn hier wird erstmals die rekonstruierte Fassung aus dem Jahr 1859 eingespielt und nicht die zehn Jahre später entstandene und seither gängige Version des Faust.
Gounod musste im Jahr 1869 seinen ursprünglich für das Théatre-Lyrique geschriebenen Faust für Aufführungen an der Pariser Opéra umarbeiten. Die Dialoge wurden durch Rezitative ersetzt, zahlreiche Nummern wurden neu komponiert, und es musste natürlich ein großes Ballett ergänzt werden.
In der vorliegenden Einspielung, basierend auf der Neuausgabe von Paul Prévost im Bärenreiter-Verlag, hat man versucht, die ursprüngliche Version des Faust so weit wie möglich zu rekonstruieren. In einem der nur in französischer und englischer Sprache abgedruckten informativen Texte im Begleitbuch wird denn auch nicht ohne Stolz vermerkt, dass in dieser Aufnahme auch Passagen enthalten sind, die Gounod selbst nie mit Orchester gehört hatte, da es bereits vor der Uraufführung zu Kürzungen kam.
Man ist erstaunt, wie viel unbekannte Musik hier geboten wird. Einige der beliebtesten „Nummern“ werden durch völlig neue Kompositionen ersetzt: So gibt es statt Valentins Abschieds-Kavatine ein Duett mit Marguerite, Méphistophélès singt statt des „Rondos vom goldenen Kalb“ ein „Chanson du Scarabée“, von Siebel ist eine andere Romanze und statt des Soldatenchors ein Couplet des Valentin zu hören. Auch innerhalb der bekannten Nummern gibt es gelegentlich Überraschungen durch einen geänderten musikalischen Verlauf. Neben etwas übertrieben theatralisch gesprochenen Dialogen enthält die Aufnahme auch mehrere Melodramen.
Christophe Rousset musiziert mit dem von ihm gegründeten und überwiegend in der Barockmusik eingesetzten Les Talens Lyriques teils mit geschärftem Klang, teils mit herrlichen Lyrismen. Dass er auch Tempo-Extreme liebt, zeigt sich an der sehr getragenen Introduction und dem in atemberaubendem Tempo gebotenen Walzer am Ende des ersten Akts, das der Flemish Radio Choir bravourös mithält.
Von den Solisten kann Benjamin Bernheim als Faust mit lyrischem Schmelz, beseeltem Piano und in allen Lagen ausgewogener Stimme als Idealbesetzung dieser Partie gelten. Véronique Gens als Marguerite überzeugt trotz einer gewissen Schärfe in der Höhe mit angenehmem Timbre und eleganten Phrasierungen. Dass für einen Méphistophélès nicht unbedingt eine tiefschwarze Bass-Stimme nötig ist, zeigt Andrew Foster-Williams, der die diabolischen Elemente durch intelligente Gestaltung zur Wirkung bringen kann. Erwähnt seien noch Jean-Sébastien Bou als stimmlich nobler Valentin und Ingrid Perruche als urkomische Dame Marthe. Das Klangbild der Aufnahme ist ausgewogen, aber recht hallig.
Wer bereit ist, auf die eine oder andere Wunschkonzert-Nummer zu verzichten und sich stattdessen auf eine spannende Entdeckungsreise begeben möchte, ist mit diesem „Urfaust“ bestens bedient.
Thomas Lang