Lassen, Eduard

Faust I. Die wiederentdeckte Schauspielmusik

Kammerchor der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar, Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt, Ltg. Oliver Weder

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Harms 151101
erschienen in: das Orchester 07-08/2016 , Seite 72

Die Sparten sind heutzutage säuberlich getrennt: Wir gehen entweder ins Schauspiel oder in die Oper. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren jedoch Aufführungen üblich, die Wort und Gesang, Melodram und Zwischenakt-Musiken vereinten. Auch Goethe dürfte sich seinen Faust als derartiges Gesamtkunstwerk vorgestellt haben.
Die erfolgreichste Schauspielmusik zu Goethes Tragödie stammt von Eduard Lassen, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Brüssel aufwuchs. Entscheidend für seine Karriere wurde eine Begegnung mit Franz Liszt, der sich begeistert von den Werken des zwanzig Jahre Jüngeren zeigte. 1861 übernahm Lassen von Liszt das Amt des Weimarer Generalmusikdirektors, das er vier Jahrzehnte lang bekleidete. Als die Nationalsozialisten die Musik des jüdischen Komponisten verboten, gerieten dessen Werke in Vergessenheit. Erst 2015 war Lassens Faust-Musik wieder zu vernehmen: bei einer konzertanten Aufführung des Theaters Rudolstadt, deren Mitschnitt inzwischen erschienen ist. Die Doppel-CD rafft die wichtigsten Stationen der Geschichte zusammen: Fausts Studierzimmer, Auerbachs Keller, die Abschnitte zu Gretchen und der Walpurgisnacht. Beteiligt sind die beseelt musizierenden Thüringer Symphoniker unter ihrem Chef Oliver Weder sowie der klangschöne Kammerchor der Weimarer Musikhochschule.
Eduard Lassen komponierte seine Musik für ein international beachtetes Theaterereignis in Weimar: die erste Gesamtinszenierung beider Faust-Teile durch Otto Devrient. Lassen steuerte zu diesem zwölfstündigen Doppelabend, der 1876 Premiere hatte, den großen, spätromantischen Orchesterapparat bei. Seine Musik klingt nach Liszt und Wagner, wartet aber auch mit dem Klangfarbenreichtum der französischen Tradition auf. Zugleich kommen historisierende Stile zum Einsatz, um einzelne Szenen zu charakterisieren. So schunkeln die Betrunkenen in Auerbachs Keller im barock-polyfonen Kanon. Der Text wird häufig als Melodram dargeboten. Wenn Faust mit magischen Tricks die Naturgeister herbeiruft, erklingen Sphärenklänge von hohen Flöten und zarten Streichern. Mephistos Auftritt wird durch Getöse von Tuba und Posaune begleitet.
Kraftzentrum der Aufführung ist Steffen Mensching, der einen abgebrühten, sarkastischen Faust gibt. Lisa Klabunde wirkt als Gretchen eher handfest als unschuldig. In ihrem Monolog „Meine Ruh ist hin“ bekunden flirrende Streicher eine deutlich größere Nervosität als in der entsprechenden Schubert-Vertonung.
Nach der Uraufführung führte ein halbes Jahrhundert lang kein Weg an Lassens Schauspielmusik vorbei. Die Weimarer Ursprungsinszenierung reiste nach Düsseldorf, Breslau oder Mainz. Lassens Musik wurde aber auch in andere Inszenierungen übernommen und gelangte so bis nach Stockholm, London und St. Petersburg. Dass die Regisseure nach dem Krieg nicht mehr auf Lassens Musik zurückgriffen, liegt vor allem an einem Wandel des Geschmacks: Die Erhabenheit melodramatischen Deklamierens entspricht nicht mehr dem Zeitgeist.
Antje Rößler