Nectoux, Jean-Michel
Fauré
Seine Musik. Sein Leben. "Die Stimmen des Clair-obscure"
Ein Glücksfall: Jean-Michel Nectoux 1990 erstmals im französischen Original erschienenes und 2008 überarbeitetes Fauré-Buch Frucht jahrzehntelanger, profunder Arbeit über einen oft unterschätzten Komponisten liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Diese Publikation erfüllt
ein echtes Desiderat, denn abgesehen von dem Bärenreiter-Band Gabriel Fauré. Werk und Rezeption (1996), einer Sammlung von Aufsätzen zu Einzelthemen, lag hierzulande das Schrifttum zu diesem immerhin einst als französischer Schumann bezeichneten Komponisten lange Zeit brach. Nun kann auch die deutschsprachige Fauré-Gemeinde auf ein Buch zurückgreifen, das den neuesten wissenschaftlichen Stand wiedergibt und dessen umfangreicher Anhang (Chronik zu Leben und Werk, Werkverzeichnis, Bibliografie sowie weitere Anmerkungen enthaltend) auch schnelle Nachschlagbedürfnisse erfüllt. Zudem ist die Diktion des Buchs gleichermaßen von Nectoux Kompetenz wie von seiner großen Sympathie für diesen Komponisten geprägt.
Auf den ersten Blick sprunghaft erscheint die Erzählweise: Biografisches und Werkbetrachtungen sind weder streng getrennt noch in einen einzigen Erzählstrom zusammengefasst, sondern werden raffiniert übereinandergeblendet. So behandelt etwa der zweite Teil des Buchs im Wesentlichen die Jahre zwischen 1865 und 1887; die hier integrierten Abschnitte zu den Themen Kammermusik, Chorwerk und Bühnenwerke beschränken sich aber nicht auf die in dieser Zeit entstandenen Kompositionen. Es zeugt vom Geschick Nectoux, dass sich dieser Modus für den Leser nicht verwirrend, sondern vielmehr inspirierend auswirkt: Stets ist der Blick auf Detail und Gesamtwerk zugleich gerichtet.
Sehr aufschlussreich sind Nectoux Betrachtungen der Fauré-Rezeption durch die jungen Künstler um 1920. Nach den unterschiedlichen Stadien, die das öffentliche Bild dieses Komponisten durchlaufen hatte vom akademischen Frankreich einst ob seiner avancierten Harmonik gescholten, galt er der Generation Debussys fast schon wieder als altmodisch , empfanden die Vertreter der Jeune France um Jean Cocteau und Darius Milhaud Faurés Kunst einer zurückhaltenden Modernität (Nectoux) als weg- und zukunftsweisend. Genug der Wolken, Wellen, Aquarien, Wassernixen und nächtlichen Gerüche, polemisiert Cocteau gegen Debussy und verwahrt sich zugleich gegen eine Musik, die russisch oder deutsch oder beiderseits unterwandert sei: Ich verlange eine französische Musik Frankreichs. Eine solche Kunst sah das Junge Frankreich in Faurés Werk verwirklicht, und nach seinen zermürbenden Kämpfen um Anerkennung scheint der greise Fauré die Reverenzen der Jungen genossen zu haben.
Dieses Buch ist die ideale Begleit-Musik zur derzeit (unter der Editionsleitung Nectoux) im Erscheinen begriffenen textkritischen Fauré-Gesamtausgabe des Bärenreiter-Verlags. Bis auf Marginalien darf auch die Übersetzung von Norbert Kautschitz als gelungen bezeichnet werden.
Gerhard Anders