Steinbeck, Anke
Fantasieren nach Beethoven
Praxis und Geschichte kreativer Musik
Ludwig van Beethoven war ein großer Meister der Improvisation und begeisterte mit seinem freien Fantasieren auf dem Klavier das Wiener Publikum. 190 Jahre nach seinem Tod erscheint nun ein sehr schön gemachtes Buch der Musikwissenschaftlerin Anke Steinbeck, das sich mit eben diesem Fantasieren nach Beethoven auseinandersetzt. Dabei knüpft die Publikation an Beethovens Geburtsstadt Bonn an, in der die Autorin derzeit als Projektleiterin im Jazzbereich tätig ist. Beethoven selbst steht nicht im Mittelpunkt, stattdessen präsentiert das Buch neben einigen Kapiteln mit Grundsätzlichem zum Thema Improvisation zahlreiche gut geführte Interviews mit herausragenden Musikern aus Jazz und/oder Klassik, die in der Regel im Zusammenhang mit deren Konzerten in Bonn geführt wurden. Diese Gespräche machen einzelne Aspekte des Themas Improvisation sowie die jeweiligen künstlerischen Standpunkte sehr deutlich. Die in Bonn geborene jüngere Jazzpianistin und Bandleaderin Julia Hülsmann z.B. äußert sich über die durch einen falschen Ton verursachte Fallhöhe in der Klassik.
Die Interviewpartner aus dem Bereich der Klassik, u.a. der auch als Jazzsänger aktive Bariton Thomas Quasthoff und der Komponist Enjott Schneider, widmen sich schwerpunktmäßig den Grenzen zwischen den musikalischen Genres, die sie aus einer Vielzahl von Gründen für überholt halten, und sie gewähren Einblicke in die eigenen kreativ-künstlerischen Strategien, die z.B. von Kontrasten oder von außereuropäischen Impulsen inspiriert sind. Allgemein kritisch gesehen wird, dass die Neue Musik oftmals zu verkopft erscheint.
Besonders interessant und von hohem Erkenntnisgewinn ist das Interview mit dem Vibrafonisten und Architekturtheoretiker Christopher Dell, der das Phänomen der Improvisation in verschiedene Handlungsmodi zwischen Muddling through und konstruktivem Umgang mit Unbestimmtheit unterteilt und dabei mit der Definition seiner eigenen Musik als zeitgenössischer Musik mit hohem Improvisationsanteil eine nahezu allgemeingültige Bezeichnung prägt.
Neben den Erkenntnissen zum Verhältnis von Improvisation zu Komposition skizziert Anke Steinbeck in ihrem sehr unterhaltsam zu lesenden Buch am Beispiel der Stadt Bonn, wie das Musikleben unserer Städte zwischen Gestern und Morgen im Hier und Jetzt zu gestalten wäre. Der Kunstform der Improvisation sollte dabei ein herausragender Ort reserviert werden. Ihr Potenzial ist zu wichtig und wirkungsmächtig, als dass eine Gesellschaft sie außen vor lassen könnte.
Die Autorin selbst wird auch in ihrem Thema bleiben. Im Vorwort kündigt sie zwei weitere Publikationen an, in denen sie die bisher noch auf die Bundesstadt beschränkten Überlegungen in größere Zusammenhänge stellen will. Den kompositorischen Großmeister Beethoven zum Patron heutiger Improvisatoren zu machen, ist auf jeden Fall eine sehr gute Idee, seine Grenzüberschreitungen können auch heute noch ein großer Ansporn sein. In Bonn und überall sonst.
Stephan Froleyks