Ellinor Skagegård
Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik
Übersetzungen können verblüffen – selbst auf den ersten Blick und bereits auf der Titelseite. Dieses Kunststück gelingt Regine Elsässer jüngst. Den vergleichsweise sachlichen wie drögen schwedischen Originaltitel schleift die Übersetzerin in ein herrlich auf den Punkt gebrachtes Lebensbild um. Dafür allerdings steht Peter Høegs internationaler literarischer Durchbruch aus dem Jahr 1992 Fräulein Smillas Gespür für Schnee Pate. Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik eröffnet heute den viel klareren Blick auf eine zu lange im Schatten ihres jüngeren Bruders Felix stehende Komponistin als die im Schwedischen transportierte Haltung, Musik sei für Frauen nur eine Zierde und keine erstrebenswerte oder gar den Lebensunterhalt sichernde Berufung.
Die Würdigung des weiblichen kreativen Schaffens auf dem Feld der Tonkunst kommt in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zur Geltung. Musiker, Forscher, Liebhaber, Verlage, Plattenfirmen, Festivals, Konzerthäuser und Orchester wenden sich der aufgeschlossenen Rückschau zu. Die Pianistin Lauma Skride nahm 2007 Fanny Hensels Klavierzyklus Das Jahr auf. Auf eine filmische und musikalische Spurensuche begab sich 2019 die Tastenkünstlerin Kyra Steckeweh mit der mehrfach prämierten Dokumentation Komponistinnen. Darin werden neben Fanny Hensel auch Mel Bonus, Lili Boulanger und Emilie Mayer dem Vergessen entrissen.
Bei einem Konzert in Uppsala stößt Skagegård 2014 dank des lokalen Kammerorchesters erstmals auf Fanny Hensel. Die Journalistin und Folkmusikerin verpflichtet sich, sich dieser einzigartigen Frau aus prominenter Familie – Künstlerin, Kulturschaffende, Mutter und Ehefrau – innerhalb der Zeitgeschichte anzunähern. Fünf Jahre später erscheint das Buch in ihrer Heimat. Dafür nutzt die Schwedin Briefe, Tagebücher, Biografien und Studien als Quellen und arrangiert diese zu einmaligen Momentaufnahmen der entscheidenden Lebensstationen. Die Berliner Salons des 19. Jahrhunderts, die Künstlerreisen in das gelobte Italien oder die Oase der Sonntagskonzerte erstehen wieder vor dem geistigen Auge. Der Lehrer Zelter und der alte Goethe dürfen natürlich nicht fehlen.
Skagegård setzt mit Clara Schumann und Charles Gounod bemerkenswerte Lichtpunkte. Allerdings genügt der Vergleich zwischen Fanny Hensel und Clara Schumann allein nicht, um in groben Linien die Chancen und Grenzen für Frauen im damaligen Musikbetrieb nachzuzeichnen. Die Friedländer Apothekertochter Emilie Mayer fand in Carl Loewe in Stettin ihren Ziehvater und startete von Berlin aus ihre internationale Karriere – allerdings als Unverheiratete. Jene beweist als Sinfonikerin, dass sich das einst als schwach angesehene Geschlecht nicht auf den engen schöpferischen Kreis von Liedern oder Kammermusik zu begrenzen braucht, sondern geht nach Beethoven produktiv voran.
Ellinor Skagegårds herrliches Debüt Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik ist wie ein Song aus der schwedischen Hitfabrik: eingängig, gehaltvoll und dank der so plastisch herausgestellten Menschen anrührend.
Uwe Roßner