Lutoslawski, Witold

Fanfare for Los Angeles Philharmonic/Symphony No. 1-4

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Sony Classical 8876544083
erschienen in: das Orchester 07-08/2013 , Seite 76

So manches Konzert- und Festivalprogramm wird diesjährig im Zeichen von Witold Lutoslawski stehen. Auch einige neue CD-Produktionen erinnern an den 100. Geburtstag des großen polnischen Komponisten. Diese Gesamteinspielung aller Sinfonien ist eine davon. Sie enthält, abgesehen von der Ersten, zwar keine Neueinspielungen, nichtsdestotrotz gewährt dieses Patchwork aus fast 30 Jahren Konzertmitschnitten der Los Angeles Philharmonic unter Esa-Pekka Salonen einen eindrucksvollen Überblick über das sinfonische Schaffen eines der faszinierendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, das zugleich ein markanter Abriss von dessen gesamter kompositorischer Entwicklung ist.
Lutoslawskis 1. Sinfonie (1941-1947) kommt noch ganz im Gewand des Neoklassizismus daher, aber ihr Inhalt hat mit heiler Welt herzlich wenig am Hut. Permanente Unruhe, dramatische Verdunkelungen und manch sardonische Zwischentöne im Stil von Prokofjew und Schostakowitsch erinnern daran, dass diese vermeintlich harmlose Gattungspremiere ein Kind des Zweiten Weltkriegs ist, den Lutoslawski viele Jahre im Warschauer Ghetto erleben musste.
Dass ein Meisterwerk progressiver Orchestermusik wie die 2. Sinfonie (1966/67) in den Konzertprogrammen eher selten auftaucht, ist ein Rätsel. Klangfarblich subtil kommt der in kleine Instrumentalgruppen aufgesplitterte erste Satz „Hésitant“ daher, der mit einer schönen Blechbläser-Kakofonie beginnt, welche die spätere Fanfare for Los Angeles Philharmonic (1993) vorausahnen lässt – kleines Tribut an das Blech eines Lutos­lawski-Traditionsorchesters, wenn man so will. In „Direct“ werden dann Klangmassen mit frenetischer Energie zum Riesencrescendo angeschoben und verdichten sich zu gut getimten Eruptionen.
Dass Lutoslawskis Dritte (1972-1983) eine lange und komplizierte Genese hinter sich hat, hört man ihr an. Sie hat diese spannende Klanglandschaft in ihrer zerklüfteten Topografie wahrscheinlich erst möglich gemacht: ein einsätziger Flickenteppich aus zerrissenen melodischen Gesten, temporären Klangfeldern und beeindruckenden polyfonen Steigerungen. Es ist fraglos die beste Aufnahme in diesem Zyklus, nicht nur wegen der furiosen Toccata und manch hochexpressiver Verdichtung, sondern weil die für Lutoslawski so signifikante Balance von kammermusikalisch konzipierten Klanggruppen und orchestralen Masssenbewegungen hier optimal ausdifferenziert scheint. Am Ende bekommt das dann fast Mahler’sche Züge…
Im Gegensatz zur extrovertierten Sprache der Dritten gibt sich die 4. Sinfonie (1993) ein Jahr vor Lutoslawskis Tod lyrisch und introvertiert, ein elegischer Abgesang mit großen melodischen Bögen, der aber dennoch nicht zu dick aufträgt, sondern in seiner kompositorischen Faktur gewohnt schwer auszurechnen ist.
Kleiner Wermutstropfen: ziemlich undurchsichtige bis fehlerhafte Nummerierung der einzelnen Sätze und den damit zusammenhängenden Aufnahmedaten.
Dirk Wieschollek