© Dominique Caillat

Katharina von Radowitz

EXZELLENZ DER ­VERBINDUNG

Wie Community Music neue musikalische Handlungsweisen inspiriert

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 04/2023 , Seite 14

Das Konzept „Community Music“ hält Einzug in Musikvermittlungsprojekte und Institutionen des klassischen Musikbetriebs. Marion Haak-Schulenburg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Eich­stätt-Ingolstadt und Trainerin bei der Organisation „Musicians Without Borders“. Kian Jazdi ist Projektentwickler und gestaltet musikalische Community-Prozesse an Institutionen wie der Elbphilharmonie oder der Dresdner Philharmonie. Mit ihnen sprach Katharina von Radowitz über musikalische Community­arbeit, fachliche und methodische Grundlagen sowie ihre Arbeitspraxis.

Marion Haak-Schulenburg, Sie unterrichten im deutschlandweit einzigen Masterstudiengang Community Music an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Wer zählt zu Ihren Studierenden und welche Kompetenzen werden im Studium im Gegensatz z. B. zur traditionellen Musikpädagogik vermittelt?

Marion Haak-Schulenburg: Der genaue Titel unseres Studiengangs lautet „Inklusive Musikpädagogik/Community Music“. Er orientiert sich sehr stark an der Idee von Community Music, wie sie sich vor allem in Großbritannien ausgeformt hat und nun auch in Deutschland auf immer stärkeres Interesse stößt. In Eichstätt nehmen wir Menschen mit Bachelorabschluss auf – hauptsächlich Musik-, Instrumental- und auch Sozialpädagog:innen. In der Community Music gehen wir davon aus, dass wir mit Musik Beziehungen stiften und sie verbessern können. Unsere Studierenden sind begeisterte Musiker:innen und teilen die Überzeugung, mit Musik in dieser Welt oder Gesellschaft einen Unterschied machen zu können. Die Verbindung von musikalischer Kompetenz und der Bereitschaft, Beziehungsarbeit leisten und Interventionen gestalten zu wollen, kennzeichnet angehende Community Musicians. Darin liegt auch der wesentliche Unterschied zur traditionellen Musikpädagogik, die ja vor allem darauf zielt, musikalische oder instrumentale Kennt­nisse und Fertigkeiten weiterzugeben. In der Community Music geht es dagegen um die Frage, wie wir Räume gestalten, damit Menschen in musikalische Prozesse kommen können, die sie mitgestalten und mitentscheiden. Als Anleitungsperson – wir sprechen von „Facilitator“ – suchen wir also nach Möglichkeiten, damit unterschiedliche Niveaustufen im selben Raum gut miteinander Musik machen können. Wir arbeiten viel mit improvisatorischen Konzepten, damit alle Teilnehmenden einen Platz bekommen und Wertschätzung erfahren. Community Musicians brauchen hohe musikalische Expertise, um mit Heterogenität umgehen zu können und zugleich soziale Situationen und Beziehungen immer im Fokus zu haben.

Wo sind Community Musicians in der Praxis tätig?

Marion Haak-Schulenburg: Die Arbeitsfelder sind vielfältig – natürliche Partner sind Soziokulturelle Einrichtungen, Jugendzent­ren, aber auch Schulen. Viele Anfragen kommen von Musikschulen, die sich inklusiver aufstellen wollen und mit ihren bisherigen Konzepten nicht weiterkommen. Klassische Kulturinstitutionen erkennen in der Community Music brauchbare Ansätze, um mit einer breiten Öffentlichkeit in Verbindung zu kommen und ihren gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen. Das Konzerthaus Dortmund hat als erstes Konzerthaus in Deutschland eine Abteilung für Community Music eingerichtet. Deutlich länger arbeiten die Münchener Philharmoniker mit diesem Ansatz und nehmen damit eine Vorreiterrolle in Deutschland ein. Weitere Institutionen ziehen aktuell nach und suchen Austausch und Zusammenarbeit mit Akteur:innen der Community Music.

Community Music ist aber auch in Krisenregionen im Einsatz – Sie arbeiten für die niederländische Friedensorganisation Music­ians Without Borders, die weltweit tätig ist. Was kennzeichnet deren Arbeit?

Marion Haak-Schulenburg: Musicians Without Borders setzt Community Music als Methode ein, um Menschen, die von großer Spaltung oder Gewalt z. B. durch Krieg betroffen sind, andere Erfahrungen in der Begegnung mit anderen zu ermöglichen. Das Musizieren in Gemeinschaft trägt dazu bei, sich wieder anderen Realitäten öffnen zu können – Musik entfaltet in diesen Prozessen ihre ganz besondere Kraft. Bei Musicians Without Borders haben wir Erfahrungen in traumasensiblen Ansätzen, die das Zusammenspiel von Zentralem Nervensystem und Musik nutzen. Die Nervensysteme der Menschen funktionieren größtenteils gleich – diese Tatsache verbindet uns über alle Kulturen hinweg und legt die Basis für die Wirksamkeit unserer Arbeit.

Über alle Kulturen hinweg – Kian Jazdi, Sie arbeiten in Ihren ­Projekten insbesondere an transkulturellen Schnittstellen. Welche Rolle spielt dabei das Thema Community und wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Kian Jazdi: Als Projektentwickler beginne ich weit vor dem Start des eigentlichen Projekts mit meiner Arbeit, die ich im Auftrag unterschiedlicher Partner, z. B. eines Konzerthauses, umsetze. Schon vor den ersten Terminen fahre ich in die Stadt, um herumzulaufen und mit Menschen zu sprechen. Ich frage, was sie von dem betreffenden Haus schon gehört haben, ob sie da schon einmal waren, was sie dort gemacht haben und wie das für sie war. Häufig werden dadurch fehlende Schnittmengen zwischen Stadtgesellschaft und Kulturinstitution deutlich. Ich unterlege meine Interviews mit Recherchen: Wie ist die Demografie der Stadt? Was gibt es für Quartiere? Insbesondere Vereine und Nachbarschaftszentren sind potenzielle Kooperationspartner für ein anstehendes Projekt.
Erst danach gehe ich in das erste umfassende Planungsgespräch mit meinem Auftraggeber. Meine Ansprechpersonen sind häufig Mitarbeitende aus Dramaturgie oder Education, hin und wieder auch die Intendanz. Wir gleichen die Erwartungen mit der Realität ab. Denn die Arbeit mit diversen Communities ist sehr ressourcenintensiv. Nicht immer passt das mit der Kennzahlenorientierung einer Kulturinstitution zusammen, die viele Menschen schnell erreichen will, denn hinter jeder Zahl verbirgt sich ein Mensch mit einem konkreten Bedürfnisprofil. Um Partizipation zu ermöglichen, ist es nötig, Beziehungsarbeit zu leisten. Ob und inwiefern mir das Haus für das Projekt den Raum, die Ressourcen und die nötige Zeit zugesteht, müssen wir abgleichen. Erst danach beginnt die eigent­liche Arbeit, die ich entweder als Musiker, als künstlerische Projektleitung oder mit dramaturgischen Impulsen begleite.

Musikalische Arbeit mit Communities – oder im engeren Sinne Community Music – stellt das Musizieren in Gemeinschaft ins Zentrum. Damit verschieben sich Parameter: Anstelle von musikalischer Exzellenz und Werktreue als Norm und Ziel künstlerischen Handelns treten neue Werte. Wie würden Sie diese beschreiben und ergibt sich daraus möglicherweise ein neues Verständnis von Exzellenz?

Kian Jazdi: Aus meiner Sicht bedeutet musikalische Community-Arbeit für ein Konzerthaus oder eine Musikinstitution einen Perspektivwechsel. Es ist wichtig, nicht nur an seinem Platz zu bleiben und dorthin einzuladen, sondern auch rauszugehen und z. B. in Nachbarschaftszentren als Kulturinstitution präsent zu sein. Den Menschen zuzuhören, Fragen zu stellen und gemeinsam zu überlegen, wo Schnittstellen zu finden sind. Das ist eine Langstreckendisziplin, die Ausdauer erfordert. Und es hat mit Verantwortung zu tun: Was kommt nach dem Projekt, wenn man eine Beziehung zu Menschen aufgebaut hat? Wie geht es weiter? Nachhaltigkeit ist ein wichtiges Thema!
Marion Haak-Schulenburg: Es gibt zahlreiche Übersetzungen für den Begriff „Community“ – ihnen gemeinsam ist das Thema der Verbindung, ob in einem Glauben, einer Subkultur, einem Stadtteil oder eben in der Musik. Insofern ist „Verbindung“ in der Praxis der Community Music ein wichtiger Maßstab. Dabei wird der Prozess genauso wichtig wie das Resultat und man könnte sagen: Es braucht einen exzellenten Prozess, um ein inklusives Resultat zu erreichen. Exzellenz hat somit in der Community Music eine musikalische wie auch eine soziale Dimension. In dieser Verbindung liegt der Zauber. Die musikalische Qualität tritt dabei keinesfalls hinter dem sozialen Aspekt zurück, aber koppelt sich von der Bedeutung des sozialen Prozesses auch nicht ab. Damit emanzipiert sich Community Music von dem Anspruch, Menschen von „draußen“ in die Kulturinstitution zu holen – was ja grundsätzlich überhaupt nicht verkehrt ist. Uns geht es aber eben nicht darum, an einen bestimmten musikalischen Kanon heranzuführen, sondern darum, dass man Menschen ermöglicht, ihre eigene Art von Ausdruck in der Musik zu finden. Im Feld der Community Music wird versucht, keine Wertungen oder Hierarchien zwischen musikalischen Ausdrucksformen und Genres zu etablieren oder fortzuführen.

„Community Music“ hat aktuell Konjunktur (auch wenn der Begriff nicht immer präzise verwendet wird und häufig allgemein die Bemühungen um verschiedene Communities umreißt). Dies mag eine Reaktion auf die Erfahrungen der Pandemiezeit sein, in der die eigene Relevanz grundsätzlich infrage gestellt wurde. Wie schätzen Sie die erhöhte Aufmerksamkeit für das Thema ein? Was wäre Ihr Wunsch, wenn Sie diese Tendenzen weiterdenken?

Kian Jazdi: Diese Entwicklung insbesondere in den vergangenen drei Jahren ist notwendig und überfällig. Eine staatlich subventionierte Kulturinstitution, die von allen Menschen finanziert und getragen wird, muss sich fragen, was sie für diese Menschen in ihrer Vielfalt bedeuten kann. Das heißt nicht, den bestehenden Kanon grundsätzlich abzuschaffen. Aber das Repertoire darf dort auch nicht enden. Für die Zukunft sehe ich es zum einen als dringend nötig an, die Rolle und Wirkung von Kulturinstitutionen im ländlichen Raum zu entwickeln. Zum anderen – und das ist für mich ein entscheidender Punkt! – müssen die Backoffices diverser werden. In Kulturinstitutionen fehlen noch immer Identifikationsfiguren, die glaubhaft für verschiedene Perspektiven und Hintergründe stehen. Da ist die freie Wirtschaft schon viel weiter!
Marion Haak-Schulenburg: Die Pandemie hat gezeigt, dass Verbindung essenziell ist. Es wäre mein Wunsch, dass wir unter dem spürbaren Transformationsdruck keine neuen Hierarchien aufbauen, sondern offen verschiedene Wege, sich kulturell und musikalisch zu äußern, wahrnehmen und erproben. Ich bin überzeugt, dass Community Music als Werte- und Handlungskonzept in großen Kulturinstitutionen dazu beitragen kann, nicht nur ein größeres Pub­likum anzusprechen, sondern auch, das Klima in der Organisation insgesamt zu verbessern.
Kian Jazdi: In der Anerkennung verschiedener Qualitätsdimensionen liegt für mich großes Potenzial. Die Exzellenz des Prozesses ist eine davon, hinzu kommen Aspekte wie Beziehung und Augenhöhe, Risikobereitschaft und gesellschaftlicher Zusammenhalt, die in der partizipativen Arbeit eine wesentliche Rolle spielen. Musik kann den Raum stellen, um diese Werte zu behandeln.
Marion Haak-Schulenburg: Kreativität und Mut zum Ausprobieren entstehen nur da, wo man keine Angst haben muss, dass Scheitern zur Katastrophe führt. Hier kann und muss das traditionelle Konzertwesen noch lernen, wenn es das Prinzip „Community Music“ glaubwürdig einbinden möchte. Solange es in sehr hierarchischen Strukturen lediglich um Leistung geht und die musikalische Arbeit sich am Wohlergehen und Wohlbefinden der Menschen hinter, auf und vor der Bühne kaum interessiert zeigt, stimmt das Gesamtkonzept nicht. Wenn Community Music nachhaltig wirken soll, braucht es insgesamt einen Paradigmenwechsel – und das ist vielleicht die Aufgabe, die wir gemeinsam angehen können.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 04/2023