Ludwig van Beethoven

Evolution – Complete Cello Sonatas

Adolfo Gutiérrez Arenas (Violoncello), Christopher Park (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Odradek
erschienen in: das Orchester 03/2021 , Seite 79

Nicht „entschärft“ soll sie klingen, abgerundet und gefällig. Vielmehr streben Adolfo Gutiérrez Arenas und Christopher Park danach, Beethovens Musik in ihrem permanenten Spannungszustand zwischen hoher Kompo­sitionskunst und radikaler Emotionsäußerung erlebbar zu machen. Diese Intention ist nicht neu, doch drängte es die beiden Musiker verständlicher­weise, das Projekt einer weiteren Aufnahme der viel gespielten fünf Beetho­ven’schen Cellosonaten mit einem eigenständigen Interpretationsansatz zu verknüpfen, der (vielleicht) neues Licht auf die bemerkenswerte Werkgrup­pe lenkt. Diese im Booklet formulierte Motivation in musizierte Realität umzusetzen ist, um es vorwegzunehmen, glänzend gelungen, und es hätte hierzu weder des reißerischen Titels Evolution noch kunstvoll verwackelter Action-Fotos bedurft.
Unterstützt durch exzellente Aufnahmetechnik kreieren Gutiérrez Arenas und Park ein Klangbild, das die changierenden Stimmgewichtun­gen und permanenten Rollenwechsel der beiden Instrumente perfekt abbil­det: Cello und Klavier sind stets insoweit „getrennt“, dass nichts (d.h. ins­besondere kein Celloton!) untergeht oder verschwimmt. Andererseits ent­steht eine hohe Klang-affinität, die ihrerseits korrespondiert mit großer Homogenität in puncto Dynamik, Artikulation, Phrasierung. Hier bewei­sen die Musiker durchaus Courage: Wo der Notentext es nahelegt, werden Brüche, ruppige Phrasenanfänge und -enden, Kontraste nicht gescheut. Es gibt zahlreiche Momente von großer Zartheit und Fragilität, dann wieder hören wir schmelzendes Cantabile, übermütiges Giocoso, kantige Kontra­punktik, ausgeprägt ruhige und ausgeprägt schnelle Tempi, kurzum: das ganze Spektrum Beethoven’scher Ausdruckswelten in unverfälschten, kla­ren Farben.
Nicht anders als in den frühen Klaviersonaten und Streichquartetten zeigt sich Beethoven in den beiden 1796 komponierten Sonaten op. 5 von seiner progressiven Seite: Hier entsteht im Grunde die Gattung Cellosonate als Duo gleichberechtigter Partner.
Überraschendes geschieht auch in den weiteren Sonaten: Zeichnet sich op. 69 (1808) durch ein hohes Maß an Kantabilität und zugleich dichte mo­tivisch-thematische Arbeit aus, so betreten wir mit den 1815 entstandenen Sonaten op. 102 ein „Experimentalstudio“, das auf die späten Quartette hindeutet. Die quasi-improvisatorischen Passagen in op. 102,1 und die ver­quere Schlussfuge aus op. 102,2 haben in der Kammermusikliteratur kaum ihresgleichen.
Adolfo Gutiérrez Arenas’ schlanker, sehniger, von intelligentem (Non-) Vibrato-Gebrauch geprägter Celloton und Christopher Parks transparentes Klavierspiel, das solistische Top-Niveau der beiden Musiker, gepaart mit kammermusikalischer Sensitivität – all dies macht die Neuaufnahme zu ei­nem echten Highlight des Beethoven-Jahres … und der Folgezeit! Auch das Manko eines durch die Übersetzungsmühle gedrehten, eigentlich unlesba­ren Booklettexts soll unser Gesamtlob nicht schmälern.
Gerhard Anders