Vlieger, Henk de
Evocazione
für Flöte solo
Die magische Funktion der Flöte, die seit der Vorzeit belegt ist, beschert der Literatur für Flöte solo bis heute etliche Anrufungen oder Beschwörungen. Der italienische Begriff evocazione stammt ab vom Lateinischen evocatio (Aufruf) bzw. evocare (heraus- oder herbeirufen). Evokation bedeutet allgemein das Erwecken bzw. Hervorrufen von Gedanken und Assoziationen, mitunter auch die Praxis der Geisterbeschwörung.
Das Werk Evocazione entstand im April 1994 als Geburtstagsgeschenk für Carla Meijers, Soloflötistin der Niederländischen Radio Philharmonie. Uraufgeführt wurde es erst zwanzig Jahre später, am 11. Juli 2014, in Hilversum. Der Komponist des Werks Henk de Vlieger wurde 1953 in Schiedam (Niederlande) geboren. Ab 1984 war er als Schlagzeuger Mitglied der Niederländischen Radio Philharmonie. Parallel zu seiner 40-jährigen Karriere als Instrumentalist machte er sich vor allem als Arrangeur einen Namen. International bekannt wurde er seit den 1990er Jahren mit seinen gekonnten Bearbeitungen für Sinfonieorchester von Wagnerschen Opern: Meistersinger an orchestral tribute; Tristan und Isolde an orchestral passion; Parsifal an orchestral quest und The Ring an orchestral adventure, allesamt Auftragswerke der Radio Philharmonie unter Leitung von Edo de Waart. Zudem trat er als Autor des Handbook for the orchestral percussion section (Den Haag 2003, vergriffen) hervor.
Nach Mobile
for 12 flutes aus dem Jahr 1977 ist Evocazione de Vliegers zweites Werk für Flöte. Anders als seine früheren Werke, die wie Mobile nach strengen Regeln komponiert sind und mit einem Minimum an Material auskommen, erkundet er in diesem Solostück erstmals einen freien und intuitiven melodischen Stil. Das rund siebenminütige Werk ist mit Lento e rubato, Viertel = 48-58 überschrieben und bewegt sich im Ambitus von c’ bis ais”’. Es bietet keine besonderen technischen Schwierigkeiten. Die rhythmisch vielfältige Melodie ist reich an Dynamik und Klangfarben und drückt vielfach gegliedert verschiedene Atmosphären und Gefühlszustände aus. In fünf Episoden entfaltet sich eine Musik mit unbestimmtem programmatischen Charakter, so de Vlieger selbst im Vorwort. Hinweise auf die beschworenen Charaktere geben Vortragsbezeichnungen wie zögernd, quasi ohne Ausdruck, ruhig, frei, rubato, entschlossener, exaltiert, zärtlich, quasi scherzo, ruhig, molto cantabile, sich beruhigend (alle original auf Italienisch). Zwar wird die Bildung von Assoziationen angestoßen, doch ohne konkret zu werden und die Imagination in bestimmte Bahnen zu lenken. Was genau durch die Musik evoziert wird, bleibt jedem selbst überlassen.
Evocazione ist kein avantgardistisches, aber ein charmantes, die Fantasie anregendes, angenehm zu spielendes neues Werk für Flöte solo. Es eignet sich für den Unterricht mit Fortgeschrittenen und kann als gefällige Beimischung in Konzerten verwendet werden.
Andrea Welte