Clara Blessing

Etüden

für Hoboe

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Edition Walhall
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 71

Etüden sind für Musiker:innen so etwas wie Grundnahrungsmittel: tägliche Basis, unentbehrlich, wichtig, manchmal fade zubereitet, oft einfach nur zweckmäßig-sättigend, selten zur Haute Cuisine veredelt. Ein spezieller Aspekt steht im Fokus, sei dieser technischer oder ab und zu auch klanglicher Natur. Aber war das schon immer so? Wie ist die Genese der Etüde? Gab es etwas vor der Zeit gnadenlos technischer Nützlichkeit?
Clara Blessing hat aus Oboenschulen und Lehrwerken von 1695-1802 einen Band mit etwa 300 Original-Etüden zusammengestellt, wobei der Begriff „Etüde“ historisch zu verstehen ist: Natürlich gibt es auch hier den ein oder anderen technischen Parforceritt, zumal aus den zeitlich späteren Stücken; der Schwerpunkt liegt jedoch bei den „cantablen Sachen“, beim Klang, beim Erfühlen des jeweiligen Charakters und der Tonart.
Auf eine Auswahl aus 14 Oboenschulen hat sich die Barockspezialistin Clara Blessing konzentriert, die allesamt für die zweiklappige Barock- oder die frühe klassische Oboe geschrieben wurden. Das Spektrum reicht von Jacques-Martin Hotteterre über Johann Joachim Quantz bis hin zu Joseph-François Garnier, dessen zweistimmige Etüden deutlich den Weg in die Richtung weisen zu dem, was wir heute unter Etüde verstehen. Dazu gesellen sich, neben einzelnen Sätzen von Georg Philipp Telemann, etliche Märsche und Tanzsätze aus englischer Produktion. Auch viele „Opera Airs“ erfreuten sich früher großer Beliebtheit, speziell natürlich im London des 18. Jahrhunderts aus den Opern Händels.
Aber wie haben sie nun die Oboe gelernt vor 300 Jahren? Die Stücke sind zunächst häufig auffallend kurz. Typisch Barock steht ein „Sentiment“ im Mittelpunkt, dessen Herausarbeiten weit mehr verlangt als technische Sauberkeit: Es sind spielerisch-elegante Charakter-Miniaturen, die weniger große Emotion als Leichtigkeit und Raffinesse verlangen. Ohne sprechende Artikulation, subtile Klanggestaltung und Souveränität im Umgang mit der Vielzahl unterschiedlicher Verzierungen sind die auf den ersten Blick so harmlos scheinenden Werkchen nicht zum Leben zu erwecken. Und diese Aspekte schienen damals die essenzielle Grundlage jeder Musikausübung gewesen zu sein.
Blessing stellt die Stücke nach Tonarten zusammen. Auch das entspricht der barocken Haltung. So kann sich jeder Interessierte – je nach gerade zu erarbeitender Literatur – die passenden Etüden zusammenstellen. Um die Einarbeitung in die Tonartencharakteristik zu erleichtern, sind jeweils eine Seite Zitate in Originalsprache vorweg gestellt, wobei die deutschen Autoren (Mattheson, Quantz, Schubart) überwiegen. Eine Grifftabelle, eine Trillertabelle und eine achtseitige Zusammenstellung der wichtigsten Verzierungen sowie ein dreisprachiges Vorwort ergänzen den Band.
Sämtliche Werke sind im Faksimile abgedruckt, sodass für die Kompositionen von Hotteterre und Freillon-Poncein Kenntnis des französischen Violinschlüssels notwendig ist. Die Spiralbindung erleichtert den praktischen Umgang ungemein, zumal einige Stücke im Querformat gedruckt sind.
Marie-Theres Justus-Roth