Violeta Dinescu

Etudes de nuages

Marie-Claudine Papadopoulos (Violine)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Gutingi
erschienen in: das Orchester 03/2019 , Seite 73

Es ist das Phänomen der ständig sich verändernden Wolken, an das der Titel von Violeta Dinescus Etudes de nuages gemahnt: die wechselnde Erscheinungsweise dieser flockigen Gebilde, die als Projektionsfläche für Assoziationen dienen kann und unsere Fantasie dazu anregen mag, die am Himmel sichtbaren Formen und Strukturen gegenständlich zu deuten.
Analoges geschieht in den Etüden: Dinescu hat hierfür zahlreiche Einzelstimmen für Violine geschaffen, die medial übereinander geschichtet werden, Schicht für Schicht eingespielt und mit vielen Facetten versehen von der Geigerin Marie-Claudine Papadopoulos. Dabei wandelt sich der Zyklus in sieben Schritten zu einer Abfolge immer komplexerer Gebilde und fordert, zugleich Raum für Assoziationen bietend, unser Hörvermögen heraus.
Während sich der musikalische Verlauf der ersten Etüde für zwei Violinen noch gut mitverfolgen lässt, verliert das Ergebnis mit zunehmender Verdichtung – über vier, sechs, acht, zwölf und vierzehn bis zu sechzehn Violinen – allmählich an Prägnanz. Während so die individuelle Wirkung der violintechnisch herausfordernden Einzelstimmen in einen von Stück zu Stück dichteren Klangstrom neutralisiert wird, entsteht zugleich ein Gewebe aus vielfältig artikulierten Violinfäden, dessen Klangfülle zwar mit jeder weiteren Etüde anwächst, das aber zugleich auch stärker ausdifferenziert erscheint, je mehr Instrumente daran beteiligt sind.
Ursache hierfür ist das Hervortreten prägnanter klanglicher oder melodischer Komponenten, die den Eindruck einer in sich bewegten Fläche aus ständig wechselnden Vorder- und Hintergründen erzeugt, wobei immer wieder charakteristische Elemente und ausdrucksgesättigte Gesten die Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten.
Ebenso spannend wie anspruchsvoll ist daher der Versuch, die einzelnen Stücke hörend zu durchdringen, die Aufmerksamkeit in Phasen der dynamischen Reduktion oder Zurücknahme der Dichte auf das Hervortreten eines kurzen solistischen Moments zu richten und diesen dann in den wiedererstarkenden Klangmassen zu verlieren, während zugleich andere Gestalten in den Hörraum dringen. Dass das Gesamtergebnis nicht zum undifferenzierten instrumentalen Rauschen wird, sondern jeweils genau durch Mittel wie Dynamik und Artikulation geformt ist, verdeutlicht, mit welcher Sorgfalt Dinescu sich der kompositorischen Feingestaltung aller Einzelparts gewidmet und dazu auf eine oft sprachnah anmutende und mitunter den Idiomen osteuropäischer Volksmusiktraditionen verpflichtete Machart zurückgegriffen hat.
Letzten Endes sind diese Etüden ein Experiment in Wahrnehmungsschulung, das dezidiert auf den Prozess des Hörens und die damit verknüpften Konstruktionsleistungen sowie auf die Entstehung von Erinnerung verweist: wenn nämlich das Ohr von der Oberfläche weg gelenkt wird und Erinnerung dort einzurasten beginnt, wo man Splitter von Zurückliegendem zu identifizieren vermeint und das solchermaßen Gehörte an bereits Wahrgenommenem zu messen beginnt.
Stefan Drees