Roland Dippel

Essen: Belcanto-Glück mit dem designierten GMD

Donizettis „Lucrezia Borgia“ unter Andrea Sanguineti im Aalto-Theater Essen

Rubrik: Bericht
erschienen in: das Orchester 03/2023 , Seite 46

Obwohl die 1835 in Mailand uraufgeführte Lucrezia Borgia nicht einhellig als erstklassige Donizetti-Oper geschätzt wird, mehren sich in den vergangenen Jahrzehnten Aufführungen. Nach Joan Sutherland und Montserrat Caballé ist vor allem Renée Fleming, Mariella Devia und Edita Gruberová die Wiederentdeckung dieser Opera seria nach dem Drama von Victor Hugo zu verdanken. Am Aalto-Theater Essen gab es am 30. November nach der zweiten Vorstellung großen Jubel. Die Produktion war bereits vom vorherigen Intendanten Hein Mulders für die Spielzeit 2020/21 geplant worden, kam aufgrund der Pandemie-Einschränkungen aber erst unter der im Sommer 2022 begonnenen Intendanz von Merle Fahrholz heraus.
Seit Jahrzehnten liefern die Essener Philharmoniker im italienischen Fach regelmäßig Sternstunden ab. Andrea Sanguineti hatte als GMD in Görlitz bewiesen, dass er den Klang eines kleineren Orchesters bei großen Opern wie Tannhäuser veredeln kann. Dieses Können steigert auch seine Leistungen als designierter GMD in Essen, wo er bereits Carmen, La Bohème, Der Nussknacker sowie die Premieren von Dornröschen, Dido and Aeneas und Don Carlo dirigierte. Sanguineti bringt Donizettis Hörner- und Holzbläsersätze betörend auf den Punkt. In den kompakten Orchesterklang setzt er koloristische Feinheiten und kann dramatisch befeuern, auch wenn es auf der Szene ruhig ist. Der Abend hatte mehrere magische Momente. Sanguineti brachte zum Klingen, wie Trauma und Opern-Wahrheiten in der Inszenierung von Ben Baur mit befeuernder Synergie aneinandergeraten. Das hätte schiefgehen können – hatten der schöne Schein in Baurs Renaissance-Saal und Uta Meenens opulente Kostüme doch das Potenzial, die Inszenierung in einen unfreiwilligen Schwank rutschen zu lassen.
„Mille volte al giorno io moro“ (Tausend Mal am Tag sterbe ich) orakelt eine melodiöse Stimme aus dem Off, Bezug nehmend auf Lucrezias finale Arie. Gleich rammt der junge Gennaro ihr seinen langen Dolch in den Unterleib. Im Laufe des Abends immer wieder. Die Dame mit offenem, tizian-rotem Haar und im kurtisanengelben Kleid ist Lucrezia Borgia, seit der Renaissance eine furiose wie künstlerisch ergiebige Männerfantasie. Gaetano Donizetti und Felice Romani verzichteten allerdings – wahrscheinlich um die während der Uraufführung 1833 über die Mailänder Scala wachenden lombardisch-österreichischen Zensurbehörden milde zu stimmen – auf den Mega-Coup der Tragödie von Victor Hugo: In dieser tötet der Sohn seine Mutter, nachdem sie ihn bereits zum zweiten Mal vergiftet, ihm dann jedoch das rettende Gegengift angeboten hat. Auch die Mitglieder von Gennaros artistischer Freundesbande werden zu Opfern Lucrezias – traumatisiert durch Morde und Intrigen. Die Truppe kommt hier jedoch, verstärkt von einer virtuosen Tänzer-Crew, bestens weg: Dionysisches Flegeltum, etwas nackte Haut und ein bisschen Kunstgewerbe vollenden auf der Bühne das, was in der Musik steckt. Victor Hugos exzessiver Sprache kommen Baurs Bildorgien sehr nahe.
Wie so oft in den vergangenen Jahrzehnten brachte das Aalto-Theater eine traumhafte Besetzung zusammen. Oreste Cosimo als Gennaro schickt einen imponierend dunklen und doch leichten Tenor ins Rennen. In der Contralto-Partie von Gennaros Seelen- und Zeltgefährten Maffio Orsini glänzte Liliana de Sousa. Marta Torbidoni hat für die Titelpartie zwei Seelen in ihrem Sopran, der unangestrengt von kaltem Glanz zu rubinroter Glut wechseln kann und extreme Höhen ehrlich meistert. Davide Giangregorio macht seinen Bassbariton fast zu samtweich für den ständig Liebes- und Loyalitätsverrat witternden Herzog Alfonso von Ferrara. Opernglück und verdiente Ovationen.