Werke von Praetorius, Distler, Kaminski und anderen

Es ist ein Ros entsprungen

NDR Chor, Ltg. Philipp Ahmann

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Es-Dur ES 2064
erschienen in: das Orchester 06/2016 , Seite 76

Um das Wichtigste gleich vorwegzunehmen: Die künstlerische Qualität dieser Produktion bewegt sich auf höchstem Niveau. Der NDR Chor unter seinem Leiter Philipp Ahmann singt nicht nur präzise, die Stimmen der Sänger verschmelzen einerseits zu einem ausgewogenen Ganzen, an­dererseits bleiben die einzelnen Sänger dennoch lokalisierbar und im positiven Sinn markant und präsent. Gerade die angereicherte Tonalität vieler der ausgewählten Stücke verlangt nach einer schlanken, eleganten Stimmführung, durch die die komplexeren Harmonien, der ständige Wechsel von An- und Entspannung, dynamischer Steigerung und langsamem Ausklingen erfassbar werden. In allen diese Bereichen vermag der NDR Chor zu überzeugen. Das weite stimmliche Spektrum dieses Chors wird durch die ausgezeichnete Tontechnik eingefangen, die die akustischen Gegebenheiten der Hamburger Kirche St. Nikolai hierfür zu nutzen weiß. Im künstlerischen Bereich kann ich sicher nichts Neues über diesen Spitzenchor beitragen, sondern allein die bekannten Qualitäten erneut herausstellen.
Wenden wir uns nun dem Repertoire dieser CD mit weihnachtlicher Chormusik zu, die traditionelle Stücke des spezifisch deutschsprachigen Chorrepertoires, ausgehend von den Sätzen Michael Praetorius’, über die romantische und postromantische Tonsprache von Peter Cornelius, Johannes Brahms und Heinrich Kaminski, bis hin zur klassischen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts von Hugo Distler und Alban Berg verbindet und gleichzeitig kontrastiert. Hierbei lassen die neueren Bearbeitungen traditioneller Weihnachtslieder stets den Kontakt einerseits, andererseits die Auseinandersetzung mit den eingeführten und zum musikalischen Allgemeingut gewordenen Werken der Kirchenmusik erkennen. Die Verbindung von Alt und Neu, das bewusste Erweitern von Traditionellem und die Neuinterpretation sind diesem Repertoire immanent wie kaum einem anderen.
Als problematisch erweisen sich lediglich einige Einlassungen im ansonsten informativen Booklet, die auf die Integration heidnischer Tradition in das Weihnachtsfest, konkret auf die häufig anzutreffende Natur-, Licht- und Sonnenallegorien in den Texten verweisen. Die kunstvolle Allegorese, durch die viele der Stücke, etwa In dulci jubilo, ihre sensorischen Bezüge erhalten, führt uns zurück in die Bildsprache ihrer Entstehungszeit, des späten Mittelalters. Sie stellen wohl nicht die Plattform zur Einbindung latent vorhandener prächristlicher Tradition in das Weihnachtsfest dar, sondern sind der Ausdruck der mystischen Überhöhung und der gesteigerten Neuempfindung der in den biblischen Narrativen geschilderten Ereignisse, wie sie beispielsweise in den Schriften der Mystikerinnen Katharina von Siena, Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg zum Ausdruck kommen. Unsere textliche und ikonografische Weihnachtstradition bedient sich extensiv dieses Fundus an Motiven, die inzwischen untrennbar mit dem Fest verwoben sind. Dies gilt analog auch für die Melodien, die seit ihrer Popularisierung teilweise vor mehr als 500 Jahren mit großer Stabilität im sich ständig verändernden Rahmenwerk der Harmonik weitertradiert werden.
Volker Schier