Meinolf Brüser

Es ist alles Windhauch

Bach und das Geheimnis der „Kunst der Fuge“

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler, Kassel/Berlin
erschienen in: das Orchester 6/2025 , Seite 64

Fast 275 Jahre nach dem Ereignis überführt der Musikwissenschaftler, Musiker und Jurist Meinolf Brüser den Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel der Unwahrheit, sein Vater sei durch Krankheit und baldigen Tod gehindert gewesen, die Schlussfuge der Kunst der Fuge zu vollenden. Vielmehr habe Bach die Fuge willentlich abgebrochen.
Nur ein Jahr nach Wenn Bach trauert, seiner triftigen Neudeutung der Motetten des Thomaskantors, klärt Brüser das Entstehen der abbrechenden Fuge und die Umstände ihrer posthumen Drucklegung umfassend auf. Wie in den Trauermotetten finden sich auch in der Fuge BWV 1080/19 beide Signa seines Namens nebeneinander: das B-A-C-H-Motiv und die Verschlüsselung seines Namens durch die Zahl 14 (B=2, A=1, C=3, H=8, Summe: 14).
Im Abbruch der handgeschriebenen Fuge, so Brüsers zwingende Folgerung, inszenierte Bach „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ metamusikalisch das Ende des eigenen Komponierens. Zudem nimmt der Forscher die Abbruchstelle des Notenlinienrasters auf dem fünften Blatt des Autografs, dem Bach den Anschein eines Schmierpapiers gab, als bewusst gesetztes Zeichen der Unvollkommenheit. Eine Parallele zu Bachs Handeln findet er in der Vanitas-Malerei des 17. Jahrhunderts.
Zentrales Problem war, warum die Fuge BWV 1080/19 im Autograf mit dem Schlussstrich des 239. Taktes abbricht (Quersumme 14; im Druck als Fuga a tre soggetti endet sie bereits auf der ersten Zählzeit von Takt 233). Wozu es bislang wenige und kaum überzeugende Antworten gab. Von vornherein misstraute Brüser der dem Druck der Erstauflage vorangestellten „Nachricht“, dass der „selige Herr Verfasser dieses Werkes [durch] seine Augenkrankheit und den kurz darauf erfolgten Tod außer Stande gesetzet [wurde], die letzte Fuge […] zu Ende zu bringen“.
Der ebenso überraschende wie durchschlagende Forschungsertrag des Buches: Die Fuge BWV 1080/19, die ein viertes Thema nicht bekommen sollte, ist in der handschriftlichen Fassung Bachs willentlich als Fragment gestaltet. Was sich schon aus der absichtlich fehlerhaften Rastrierung (Ziehung des Notenliniensystems) auf Blatt 5 des Autografs ergibt. Auslöser für den Abbruch der Komposition könnte eine Erkrankung Bachs im Frühjahr 1749 gewesen sein, die sein Ableben befürchten ließ.
Die Druckfassung der abbrechenden Fuge sei aller Wahrscheinlichkeit nach von Bach selbst für den Druck bestimmt und ihr Halbschluss sieben Takte vor dem eigentlichen handschriftlichen Ende schon von ihm so für den Druck konzipiert worden, resümiert der Forscher. Die im Abbruch der Fuge erkennbare Vanitas-Symbolik löschten die Herausgeber. Demut fiel um 1750 aus der Zeit.
Lutz Lesle

 

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support