Carroll, Brendan G.

Erich Wolfgang Korngold

Das letzte Wunderkind

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Böhlau, Wien 2012
erschienen in: das Orchester 03/2013 , Seite 63

Erich Wolfgang Korngold. Sohn des Kritikers Julius Korngold, in einer Zeit, in der ein Musikkritiker gerade in Wien unglaubliche Macht hatte. Frühreifer Knabe, der in vielerlei Hinsicht das Klischee des Wunderkindes erfüllte. Doch natürlich sind die merkwürdigen Einbrüche in seiner Karriere in mindestens genauso starkem Maße der politischen Situation und sozialen Umbrüchen geschuldet. Wie viele seiner Zeitgenossen, auch wenn sie viel älter waren, feierte Korngold bis in die 1930er Jahre hinein grandiose Opernerfolge. Doch die Karriere des Juden in Europa erfuhr einen abrupten Einschnitt.
Viel ist über Erich Wolfgang Korngold geschrieben worden, dennoch ist die Monografie über den Komponisten, die der Brite Brendan G. Carroll vorlegt, in Umfang und Akribie der Recherche bisher beispiellos. Vor allem ist es die Tragik des Frühreifen, die die bisherigen Darstellungen dominiert, des zu früh verheizten Genies, des Bildes vom Wunderkind, das in einer Zeit und in einem Mythos verwurzelt ist, die längst ihren Höhepunkt überschritten hatten bzw. im Sinne des Kinderstars noch nicht erfunden waren.
Und auch Carrolls Monografie trägt den Untertitel: “Das letzte Wunderkind”. Dennoch geht der Autor weit über jene durchaus notwendigen Studien zum sozialhistorischen Phänomen des Wunderkinds hinaus. Intensiv werden gerade die Opernerfolge im Wien der späten 1920er und frühen 1930er Jahre im jeweils entscheidenden sozialen Kontext behandelt (das Verhältnis zu Ernst Krenek), aber auch der ebenso fatale wie fantastische Weg nach Hollywood. Natürlich ist all das nicht möglich, ohne die persönliche Tragik des einstigen Wunderkinds zu behandeln, ohne von Entwurzelung zu erzählen.
Aber spricht man von Entwurzelung, so ist dies nur im Verhältnis möglich, im Verhältnis zu dem, was Verwurzelung wäre. Carroll gelingt es, der Tragik Korngolds gerecht zu werden, ohne sich darin zu verlieren; Mechanismen zu verdeutlichen, die im komplexen sozial-ästhetischen Gefüge jener ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirken. Das Ineinandergreifen von Zeiten und Epochen ist latent Thema des Buches. Wien und Hollywood – zwei musikalische Kosmen werden in ihrem Funktionieren vorgestellt.
Doch auch ganz unabhängig davon verdeutlicht der Autor Einflüsse, die jeweils den außergewöhnlichen Stil Korngolds befördert haben, ohne in selbstverliebte musikalische Analyse zu verfallen. Akribisch geht er zu Werk, ohne dass dies zum Selbstzweck würde. Das Ergebnis ist eine profunde Arbeit über einen Komponisten, der auf jeden Fall mehr war als nur ein Wunderkind, der eine Reihe bemerkenswerter Kompositionen hinterlassen hat, dessen sonderbares Schicksal aber ganz besonders auch Aufschluss gibt über seine Zeit und eine ganze Reihe ambivalenter musikalisch ästhetischer Entwicklungen.
Register und Diskografie machen den Band zum praktischen Nachschlagewerk.

Tatjana Böhme-Mehner