„Entweder Sie husten oder ich spiele“
Anekdoten aus der Welt der Musik. Gesammelt und neu erzählt von Hans Martin Ulbrich
„Andere sammeln Gegenstände. Hans Martin Ulbrich sammelt Anekdoten, schon ein Musikerleben lang“, schreibt der estnische Dirigent Paavo Järvi im Geleitwort zu Ulbrichs neuem Büchlein. Seit Jahren trägt Ulbrich Histörchen aus der Welt der Musik zusammen, einige Bücher hat er bereits damit gefüllt. Nun liegt ein weiteres Bändchen des Basler Oboisten vor, in dem dieser zahlreiche musikalische Anekdoten aus Vergangenheit und Gegenwart mit Witz und Einfühlungsvermögen neu erzählt.
Er berichtet, wie Rossini ein Denkmal zu seinen Ehren ablehnt und lieber das Geld hätte. Dvořák ist so versunken in seine Musik, dass erst seine Frau ihn auf die gefährlich qualmende Petroleumlampe aufmerksam machen muss, Karlheinz Stockhausen glaubt fest daran, dass er im früheren Leben ein Adler war, und Philip Glass weigert sich, eine Oper über Donald Trump zu schreiben, da ihn, wie er sagt, „verkrachte Persönlichkeiten“ nicht interessieren. Der Dirigent Herbert Blomstedt lädt zu Knäckebrot und sauren Gurken, der Pianist Edwin Fischer hält den Londoner Bürgermeister für einen Saaldiener und gibt ihm ein paar Münzen als Trinkgeld, eine deutsche Industriellengattin verwechselt Claudio Abbado mit dem Gärtner und ein Grafologe liest aus Wilhelm Furtwänglers Handschrift heraus, dass der Schreiber vielleicht Religionsstifter ist, wahrscheinlich kein Künstler und keinesfalls ein Musiker.
All das ergibt eine höchst amüsante Lektüre, einen rasanten Galopp durch die Absonderlichkeiten der Musikwelt. Dabei wissen Ulbrichs Anekdoten und Histörchen nicht nur zu unterhalten, sondern formen in ihrer Gesamtheit ein schillerndes, musikalisches Panoptikum mit zahlreichen Facetten. Ulbrich erzählt von Londoner Straßenmusikern, Engadiner Chören und musikbegeisterten Wiener Putzfrauen, vom niederländischen Glockengeläut und von einer Sängerin, die ihr Geigenstudium abbrechen musste, weil man das Violinspiel für eine Dame „nicht kleidend“ fand.
Es ist ein faszinierender Blick hinter die Kulissen des Musikbetriebs, wo es oft um ganz profane Dinge geht, um Honorarstreitigkeiten, heftige Auseinandersetzungen (die mitunter blutig enden, wie im Fall des Geigers Giovanni Giornovichi, der einem Kollegen bei einer Rangelei die Nasenspitze abbiss) und emanzipatorische Bemühungen, wenn etwa die französische Dirigentin Emmanuelle Haïm für ihr Ensemble eine Kinderkrippe sowie einen Ort zum Stillen einrichtet. Und manchmal finden sich auch erstaunliche und gar nicht musikalische Informationen: So entdeckte der naturbegeisterte Pianist Walter Gieseking in seiner Jugend eine seltene Schmetterlingsart, die seither in der Wissenschaft mit dem etwas sperrigen Beinamen „Giesekingiana“ bekannt ist.
Es ist ein charmantes Büchlein, in dem sich Hans Martin Ulbrichs Begeisterung für die Musik wie auch für die Skurrilitäten der Musikwelt spiegelt. Ein Büchlein nicht nur für Musikfreunde, das Ulbrichs Ruf als „Denkmalpfleger von Begebenheiten“ aufs Allerschönste untermauert.
Irene Binal