Barbara Balba Weber
Entfesselte Klassik
Grenzen öffnen mit künstlerischer Musikvermittlung
Die Musikvermittlung ist den Kinderschuhen entwachsen. Orchester, Konzerthäuser, Musikhochschulen – überall ist das Thema inzwischen präsent. Die Herangehensweisen, Musik auch neben dem klassischen Konzertangebot zu präsentieren, zu vermitteln und zu reflektieren, sind vielfältig. Barbara Balba Weber ist Musikerin, Musikvermittlerin und Leiterin des Clusters Musikvermittlung/Music in Context an der Hochschule der Künste in Bern.
In ihrem Buch geht es nicht nur darum, aus einem großen eigenen Erfahrungsschatz Ideen, Anregungen und Handwerkszeug für Musikvermittlung zu präsentieren, sondern vor allem einen eigenen künstlerischen Anspruch der Vermittlungsarbeit herauszuarbeiten.
Insgesamt sieben Thesen bzw. „Schritte“ und damit unmittelbar verknüpfte „Experimente“ (konkrete Vermittlungsprojekte mit Ablaufplänen und Checklisten) bilden den Schwerpunkt des Buchs. Als Gerüst orientiert sich die Autorin an dem in den vergangenen Jahren entwickelten Kompass Musikvermittlung, der auf fünf Kategorien basiert: was, warum, wie, wem vermittelt wird und wer vermittelt. Da geht es in These eins um künstlerische Musikvermittlerinnen, die das System verändern können, in dem sie selbst tätig sind. Will sagen: Eine professionelle Orchestermusikerin ist per se nicht auch eine professionelle Vermittlerin. Wird sie in einem Perfomance-Projekt für eine klassikferne Zielgruppe vermittelnd tätig, agiert sie auch als Amateurdichterin, -schauspielerin, -komponistin etc. Am Ende erweitert sich nicht nur der Horizont des Publikums, sondern der Musikerin selbst, was wiederum positiv auf den Orchesterbetrieb zurückstrahlt.
In den weiteren Thesen und Beispielen geht es darum, wie künstlerische Musikvermittlerinnen aufzeigen können, dass Musik keine heilige Kuh ist (dass man also Musikstücke bearbeiten, verändern, mischen und in jedweder Form in der Vermittlung einsetzen darf) oder dass Komponieren ohne Schiedsrichter geschieht (die Hierarchie von Komponist-Werk-Musiker-Publikum wird über den Haufen geworfen, z.B. bei Mitmach- und Response-Projekten). Künstlerische Musikvermittlung erschaffe einen „Elfenbeinturm mit Anbau und Aussicht“; ein schönes Bild dafür, wie neue Konzertformate entstehen, die ihrerseits als musikalisch-soziales Gesamtkunstwerk wirken, das kreative Potenzial des Stammpublikums nutzen, aber auch neue Gesellschaftsgruppen erreichen.
„Bildungsmusik war gestern“ lautet schließlich provokant die letzte These. War früher der Konzertsaal dem Bildungsbürgertum vorbehalten, hatte dessen Veränderung zum Hinterfragen des gesamten Klassikbetriebs geführt. Künstlerische Musikvermittlung bricht diese Grenzen und Kategorien auf und führt zu einer anderen Akzeptanz und Relevanz von Musik.
Ein sehr lesenswertes und inspirierendes Buch, nicht nur für Musikvermittlerinnen, sondern für Profimusiker, Dirigenten und Studierende, die ihre Vermittlungskompetenzen entdecken, ausprobieren und erweitern wollen.
Gerald Mertens