Henri Marteau

Entdeckung eines Romantikers

Julie Kaufmann (Sopran), Andrea Lieberknecht (Flöte), Hans Kalafusz/Yi Li (Violine), Hariolf Schlichtig/Jürgen Weber (Viola), Reiner Ginzel (Violoncello), Yumi Sekiya/Gitti Pirner (Klavier)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Solo Musica SM 229
erschienen in: das Orchester 02/2017 , Seite 68

Dass der deutsch-französische Geiger Henri Marteau zu den „tragischen Gestalten der Musikgeschichte“ gehöre, steht schon im ersten Satz des umfangreichen Einführungstexts im Booklet der vorliegenden CD. Der Karlsruher Musikwissenschaftler Joachim Draheim bietet hier in gewohnt kenntnisreicher Weise und mit klaren Worten einen wertvollen Beitrag zur „Entdeckung eines Romantikers“, der ideal die vorzügliche kammermusikalische Wiedergabe dieser Einspielung vorbereitet und ergänzt. Die CD ist als Volume 1 ganz offensichtlich der Start einer geplanten CD-Serie der Internationalen Musikerbegegnungsstätte Haus Marteau zum Werk dieses Komponisten. Dort, im einstigen Refugium des Künstlers im oberfränkischen Lichtenberg, wird das pädagogische Werk Marteaus fortgeführt.
Der 1874 in Reims als Sohn eines französischen Industriellen und einer exzellent Klavier spielenden deutschen Mutter geborene Marteau war nämlich nicht nur ein gefeierter Virtuose auf der Violine und fundiert ausgebildeter Komponist, sondern auch als Nachfolger des legendären Joseph Joachim in Berlin ein berühmter Geigenlehrer.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs geriet Marteau im übertragenen Sinn zwischen die Fronten und wurde ein Opfer der fatalen „Erbfeindschaft“. Er erlitt als vermeintlicher Spion Verfolgung und mehrfache Internierung, musste seine Position in Berlin räumen. Nach 1918 konnte er den einstigen Status nicht mehr erreichen. Nach seinem Tod 1934 geriet er als Komponist in Vergessenheit.
Sehr zu Unrecht, wie die CD mit seiner Kammermusik beweist. Der Zeitgenosse Zemlinskys, Regers, Schönbergs und Schrekers steht für eine interessante Position in der Musik um 1900. Wie sein Freund Reger greift er einerseits auf barocke Muster zurück, schreibt andererseits Werke im sinnlich verfeinerten Ton des Fin de Siècle und Jugendstil.
Für die erste Richtung steht bei der Einspielung die Partita für Querflöte und Viola op. 42 Nr. 1, die aus der aparten Besetzung und der Paraphrase der alten Form überaus reizvolle musikalische Konsequenzen zieht.
Die acht Lieder für Singstimme und Streichquartett op. 10 sind dagegen hochmodern und erinnern natürlich sofort an Schönbergs op. 10, das zweite Streichquartett mit seinen Gesangsstücken nach George. Doch atonal wird Henri Marteau in seinem op. 10 und auch sonst nicht. Aber an kunstvoll verfeinerten Klang- und Stimmungsvaleurs, an Nervenmusik ist kein Mangel. Julie Kaufmann ist auf der CD eine exzellente, subtil gestaltende Interpretin.
Auch sonst ist das Spiel der hier agierenden erstklassigen Kammermusiker sehr einprägsam – auch bei Duowerken Marteaus und Regers für Violine, Viola, Cello und Klavier. Sie sind ein starkes Plädoyer für eine vermehrte und intensive Beschäftigung mit der Musik Henri Marteaus.
Da ist wohl noch einiges zu entdecken.
Karl Georg Berg

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